Einfach nur arbeiten reicht heute nicht mehr – wir sollen ganz neue Wege gehen, ein bisschen anders sein. Kurz: wir müssen kreativ sein. Zeit für eine Polemik gegen den Kreativitätswahn.

Stuttgart - Fürs tägliche Hamsterrad einer schönen neuen Arbeitswelt werden mal wieder neue Gesetze aufgestellt. Zuerst waren die Überstundenschrubber die Könige der Büros – mittlerweile sind sie mega-out. Dann folgten die hart arbeitenden und angeblich genauso hart feiernden Businesspunks – eine mittlerweile von der Doppelbelastung ausgelaugte und daher vom Aussterben bedrohte Spezies. Zuletzt kam es vermeintlich darauf an, im Team-Meeting mit emotionaler, sozialer oder sonstiger Intelligenz zu punkten – aber auch dieser Trend hat seinen Zenit überschritten.

 

Nun dürfen, sollen, nein müssen wir alle ein bisschen anders sein. Die Dinge mal aus einer ungewöhnlichen Perspektive betrachten, ganz neue Wege gehen. Kurz: kreativ sein. Kreativität heißt die neue Droge, an der sich Führungskräfte, Sozialwissenschaftler und angehende Bestsellerautoren berauschen. In den Buchläden sind die Regale voll von Ratgeber-Bling-Bling zum Thema. Voilà: „10 Wege zum kreativen Durchbruch“ oder „Flow und Kreativität: Wie Sie Ihre Grenzen überwinden und das Unmögliche schaffen“. Kreativität, so lautet die neue Ansage, ist der Treibstoff, der jeden Einzelnen von uns fit machen soll für den Wettbewerb. Fit für den Kampf Mann gegen Mann oder Mann gegen Frau am Arbeitsplatz, vor allem aber fit für einen Wettbewerb, der schon lange läuft, aber nun ein ganz neues Level erreicht hat: den Kampf zwischen Mensch und Maschine.

Die bobonbunte Googlewelt

Im Tagestakt erreichen uns Nachrichten aus der kreativen Hexenküche, es brodelt in Innovationslaboren, in Start-up-Zentren sollen in rasender Geschwindigkeit neue Produkte ausgetüftelt werden – Fachwissen und Routinegeschäft verlieren ihren Glanz. Was ist schon die Bandarbeit der Old Economy gegen die bonbonbunte Arbeitswelt von Firmen wie Google und Apple? In Zukunft können wir nur dann bestehen, wenn wir kreative Lösungen für Probleme finden und all unsere Kreativitätspotenziale heben. Das Lustige ist: Es gibt Manager und Wirtschaftsgurus, die tatsächlich genauso reden und denken.

Was für eine billige Einengung des Begriffs der Kreativität. Die Kreativität entspringt dem freien Spiel der menschlichen Gedankenkräfte und nicht dem freien Spiel der Wirtschaftskräfte. Wer kleinen Kindern beim Spielen zusieht, wie sie Neues entdecken, im Sandkasten eine eigene Welt erschaffen, der nähert sich den Wurzeln der Kreativität. Wie eine Persönlichkeit entsteht, wie sich ein Mensch in seinen Eigenheiten entfaltet, womöglich künstlerische Freiheiten entfaltet, darin liegt der Zauber der Kreativität. Forscher sind der Frage auf der Spur, was im menschlichen Gehirn passiert, wenn ein Geistesblitz einschlägt – sie haben sich Antworten genähert, aber noch längst nicht alle Geheimnisse von kreativen Prozessen gelüftet. Die Kreativität bleibt rätselhaft – wie schön.

Die Morgenandacht des ersten Teammeetings

Vor einer gefühlten Ewigkeit hat sich der Philosoph Theodor Adorno dem Thema von links außen genähert. Adorno kritisierte die sogenannte Kulturindustrie, die von Profitinteressen getrieben Stars hochjuble, dann ausbeute und schließlich – wenn der Glanz ermattet ist – fallenlasse. Heute ist die Wirtschaftswelt längst zwei Schritte weitergegangen, sie blickt nicht mehr nur auf einzelne Branchen und darauf, wie innerhalb dieser Branchen Umsätze und Renditen verbessert werden könnten. Sie hat längst den Menschen ins Visier genommen – wie kann der Mensch in all seinen Eigenschaften und Talenten so getrimmt werden, dass er im großen Räderwerk noch besser funktioniert?

Vorhang auf also für den kreativen Menschen – möge er sich zwischen der Morgenandacht des ersten Teammeetings und der abendlichen Prozession im Feierabendverkehr so richtig verrückt austoben.