Europa steckt in einer politischen Dauerkrise, in den Hauptstädten ist der Reformbedarf längst erkannt. Jetzt beginnt die Bundesregierung mit einer Reihe von Bürgerdialogen, deren Ergebnisse in die Gespräche über die Zukunft der EU einfließen sollen.

Berlin - Die Bundesregierung will sich im nächsten halben Jahr ein Bild davon machen, wie sich die Bundesbürger die Zukunft der Europäischen Union vorstellen. Den Auftakt der „Bürgerdialoge“ bestreitet Kanzlerin Angela Merkel am Montag in der Berliner Jane-Addams-Schule. „Von Mai bis Herbst 2018 werden in ganz Deutschland Dialogveranstaltungen stattfinden“, sagt ein Sprecher des Bundespresseamtes: „Ziel der Bundesregierung ist es, vor allem auch zuzuhören, die verschiedenen Sichtweisen, Wünsche und Sorgen der Bürger kennenzulernen und aus dem Dialog Rückschlüsse für die Ausgestaltung Europas zu ziehen.“

 

Der Gesprächsbedarf liegt ein Jahr vor der nächsten Europawahl auf der Hand: Schon vor Monaten hat Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron weitreichende Vorschläge gemacht, um die Europäische Union auf neue Füße zu stellen, EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker legte nach, doch die Bundesregierung tut sich bisher schwer damit, eigene Zukunftsvorstellungen zu entwickeln.Die Skepsis im Land gegenüber einer weiteren Verlagerung politischer Entscheidungsprozesse nach Brüssel ist groß – das zeigt sich am Wahlergebnis der AfD, aber auch in der Unionsfraktion im Bundestag, die gerade rote Linien für die anstehende Reform der Eurozone gezogen hat. Der gegenläufige Trend ist genauso zu beobachten. „Europa erlebt ein Comeback bei jungen Menschen“, heißt es in der neuen Jugendstudie der Tui-Stiftung, die gerade präsentiert wurde. So würden von den 16- bis 26-Jährigen 80 Prozent für einen Verbleib in der EU stimmen, wenn jetzt ein entsprechendes Referendum stattfände – vor einem Jahr waren es mit 69 Prozent deutlich weniger. Die Probleme mit dem Brexit, aber auch die Pro-EU-Demonstrationen der „Pulse of Europe“-Bewegung scheinen hier etwas verändert zu haben.

Große Skepsis gegenüber weiterer Verlagerung politischer Entscheidungsprozesse nach Brüssel

Die Bürgerdialoge sollen angesichts der so unterschiedlichen Sichtweisen nun mehr Klarheit bringen. Kanzlerin Merkel und Mitglieder ihres Bundeskabinetts wollen sich dabei nicht nur wie bisher Schülern im Rahmen des seit 2007 veranstalteten EU-Projekttags stellen, sondern auch ausdrücklich den EU-Skeptikern, wie Regierungssprecher Steffen Seibert unlängst betont hat. Wie die Gäste der Bürgerforen ausgewählt werden, ist noch nicht bekannt, genauso wenig wie Termine und Veranstaltungsorte bereits öffentlich sind.

Merkel plant auch gemeinsame Auftritte mit Macron

Klar ist nur, dass Merkel insgesamt drei oder vier dieser „Townhall“-Formate bestreiten will und ein oder besser zwei gemeinsame Auftritte mit Macron in Planung sind – einer in Deutschland und einer in Frankreich. Zusammen etwas in Aachen zu organisieren, wo Merkel kommenden Donnerstag ohnehin die Laudatio auf den Karlspreisträger Macron halten wird, kam nach Informationen aus dem Kanzleramt kurzfristig nicht zustande. Unabhängig soll es auch eine digitale Beteiligungsmöglichkeit geben, und Merkel hat angekündigt, dass die Ergebnisse auf dem EU-Gipfel im Dezember diskutiert werden könnten.

All das ist der Opposition viel zu vage – zumal an Bürgerdialogen zu Europa schon in der Vergangenheit kein Mangel bestanden hat. Allein die EU-Kommission, die ihre eigene Online-Befragung organisiert, hat europaweit seit 2012 insgesamt 700 der Foren mitorganisiert, weitere 500 sollen bis zur Europawahl folgen. Mit den nationalen Regierungen, die auf Anregung Macrons ebenfalls eigene Bürgerdialoge auflegen, gibt es immerhin Terminabsprachen.„Statt einer Dialogreihe mit Mehrwert organisiert die Bundesregierung eine Deutschlandtour für das Bundeskabinett“, kritisiert Michael Link, der europapolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion: „Wie die Gesprächsergebnisse systematisch aufgearbeitet werden sollen und dann in die politische Debatte einfließen, ist völlig nebulös.“ Die Herangehensweise wirke halbherzig, so Link weiter: „Und diese Halbherzigkeit kann schnell zum Problem werden, wenn Bürgerinnen und Bürger das Gefühl bekommen, dass man ihre Wünsche und Sorgen zum Thema Europa nicht ernst nimmt und versucht, sie mit Schau-Diskussionen abzuspeisen.“

Opposition kritisiert „nebulöse“ Herangehensweise

Die Grüne Franziska Brantner, die EU-Expertin ihrer Fraktion, sieht das ganz ähnlich: „Es muss sichergestellt werden, dass nicht nur wieder die üblichen Verdächtigen über Europa reden und die Beiträge der Bürger auch wirklich zu Konsequenzen führen – bisher sieht es jedoch danach aus, als ob die Bundesregierung Macrons Ansatz einer echten europäischen Bürgerbeteiligung nur extrem widerwillig und halbherzig umsetzt.“