Die Wirtschaft im Kreis Böblingen gerät zunehmend unter Druck. Das hat Folgen für die Städte und Kommunen, deren Einnahmen sinken. Wie sollen die Weichen für die Zukunft gestellt werden? Zwei Kreisräte diskutieren.

In der Region Stuttgart droht eine Wirtschaftskrise, der Autosektor steht vor einer historischen Zäsur. Der Kreis Böblingen ist davon besonders betroffen. Wie kann die Kreispolitik dem begegnen? Die Rezepte sind offenbar sehr unterschiedlich, wie ein Gespräch mit der Linken-Fraktionschefin Ingrid Pitterle und dem Freie-Wähler-Kreisrat Achim Gack zeigt.

 

Kein Tag vergeht ohne Meldungen wie „Stellenabbau bei Daimler“, „Zulieferer bangen um Jobs“. Wie geht es Ihnen, wenn Sie das lesen?

Achim Gack Die Ängste sind in der Region da, ganz klar. Aber das ist immer noch Jammern auf hohem Niveau. Wir haben von einer guten Wirtschaft viele Jahre profitiert und tun es immer noch. Selbst wenn das Wachstum jetzt lange stagniert, wird es uns gut gehen. Wir werden sicher auf manche Dinge verzichten müssen wie etwa eine Fahrradwegbeleuchtung. Da müssen Städte und Gemeinden eben warten, bis sie es sich wieder leisten können.

Ingrid Pitterle Wir müssen jetzt dafür sorgen, dass die Veränderungen sozial verträglich ablaufen. Und da geht es nur selten um die Mitarbeiter von Daimler und Bosch. Die Menschen dort sind gut abgesichert. Es geht eher um Angestellte kleinerer und mittlerer Unternehmen. Sie werden für die Veränderungen am meisten bezahlen.

Wer soll helfen?

Pitterle Diejenigen, die für die Probleme verantwortlich sind! Also die Autoindustrie, die stets auf kurzfristige Gewinne orientiert war und Millionen Menschen betrogen hat. Und die Politik, die die nötigen Rahmenbedingungen für einen Wandel verschlafen hat. Es ist jetzt Zeit für radikalere Vorschläge: Warum sollen nicht eine Verkäuferin oder ein Handwerker ihre Dieselautos kostenlos oder stark verbilligt gegen ein E-Auto eintauschen können? Das wäre für mich sozial verträglich.

Gack So weit würde ich auf keinen Fall gehen. Natürlich hat die Autoindustrie Fehler gemacht. Aber der Diesel wird zu Unrecht kritisiert. Die neuste Technologie ist nicht viel klimaschädlicher als die bisherigen Elektroautos. Im Moment herrscht ein Klimaalarmismus, der gefährlich ist. Wenn die EU einen Klimanotstand ausruft, ist es eine Extremsituation, die Angst macht. Wir sollten Veränderungen mit kühlem Kopf vorantreiben.

Wie?

Gack Wir brauchen die richtigen Anreize. Die haben wir gesetzt. Jetzt müssen wir umsteuern. Die großen Konzerne sind bei Veränderungen träge. Aber die Mehrzahl der Beschäftigten im Kreis arbeiten für kleinere und mittlere Betriebe. Die spüren die Veränderungen erst langsam und können sich schneller an die Erfordernisse anpassen.

Pitterle Ich würde widersprechen. Auch die Mittelständler spüren zunehmend den Kostendruck aus dem Ausland.

Gack Aus meiner Sicht leiden sie eher darunter, nicht wachsen zu können. Im Kreis fehlen massiv viele Bauflächen und neue Fachkräfte.

Zwei Themen, die nicht neu sind.

Pitterle Ja, aber für Innovationen wichtig. Der Fachkräftemangel ist eng geknüpft mit dem Mangel an Wohnraum. Ich höre immer wieder, dass selbst Polizeibeamte wegziehen, weil sie keine bezahlbare Wohnung finden. Wir müssen schaffen, dass leer stehende Wohnungen vermietet werden. Dazu könnte man etwa einen Kümmerer einrichten, der diese Wohnungen an die Bedürftigen bringt.

Gack Ich bin da Ihrer Meinung, aber viele wollen nicht vermieten. Und das ist ihr Recht.

Pitterle Dann müssen wir sie dazu durch Strafzahlungen zwingen!

Gack Strafen motivieren niemanden. Natürlich kann der Kreis noch mehr Geld für den sozialen Wohnbau zur Verfügung stellen. Aber irgendwo sind auch die Grenzen erreicht. Die teureren Wohnungen sind auch das Ergebnis, dass immer mehr Menschen hier leben wollen.

Pitterle Ja. Aber wir können helfen, dass Menschen auch in entfernten Gebieten zu ihrem Arbeitsplatz kommen. Dazu brauchen wir eine soziale Mobilitätswende. Wir müssen mehr Buslinien in ländliche Gebiete anbieten und die Tickets für den Nahverkehr deutlich vergünstigen.

Wohnraum alleine wird die klugen Köpfe nicht in die Region locken.

Gack Nein. Menschen kommen, wenn sie ein Bündel von Faktoren vorfinden: Wohnung, Arbeit, Kita, Schule, schnelles Internet. Beim letzten hinken wir noch hinterher, das ist teilweise beschämend. Aber das ist auch eine Folge von fehlenden Fachkräften. Wir drehen uns im Kreis.

Pitterle Bei der Digitalisierung müssen wir mehr Anreize schaffen. Das bietet besonders für kleinere Unternehmen Chancen. Ich habe letztens einen Bäcker besucht, der über eine App mitteilt, welche Waren für Allergiker verträglich sind. Von diesen Innovationen brauchen wir mehr.

Gack Wir sind schon innovativ. Ich glaube, wir müssen mehr in unsere Fähigkeiten vertrauen. Wenn in Zukunft die Stellen bei Daimler wegfallen, dann gehen die Leute in andere Firmen. Und auch wenn sich das abgegriffen anhört: Manche Probleme wird der Markt regeln.

Pitterle Glaube ich nicht. Die Schere zwischen den Verlierern und Gewinnern geht jetzt schon auseinander. Das wird durch die Transformation zunehmen. Eine wichtige Rolle spielen die Gewerkschaften. Die linken Parteien müssen sie stärker unterstützen. Und wir müssen uns auch auf lokaler Ebene dafür einsetzen, dass die Sozialleistungen angehoben werden.

Gack Wenn die öffentlichen Einnahmen sinken, gibt es auch weniger Geld zu verteilen. Man kann nicht immer nur nach dem Staat rufen – man muss auch etwas schaffen.

Pitterle Am Geld fehlt es im Moment nicht.

Gack Noch nicht.

Zu den Personen:

Böblingen - Ingrid Pitterle sitzt seit Juli 2019 im Kreistag für Die Linke und ist deren Fraktionsvorsitzende. Als ehemalige Grundschullehrerin zählt zu ihren politischen Schwerpunkten vor allem Bildung, Verkehr und Umwelt. Von 2015 bis 2019 beriet sie den Sozialausschuss im Sindelfinger Gemeinderat. Sie ist 65 Jahre alt, lebt in Sindelfingen. Ingrid Pitterle ist seit drei Jahren pensioniert und verheiratet mit dem Ex-Bundestagsabgeordneten und heutigen Linken-Stadtrat in Sindelfingen, Richard Pitterle.

Ralph Achim Gack ist seit zehn Jahren Böblinger Kreisrat für die Freien Wähler, der stärksten Fraktion im Landkreis. Der 53-jährige Schreiner ist Chef eines alten Familienbetriebes in seinem Wohnort Herrenberg. Dort ist er auch geboren und aufgewachsen. Zu seinen politischen Schwerpunkten zählen vor allem die Wirtschaftspolitik und die Stadtentwicklung. Darüber hinaus engagiert sich Achim Gack seit 2004 im Herrenberger Gemeinderat. Er pfeift seit 1983 Fußballspiele in der Amateurklasse, ist verheiratet und hat drei Kinder.