Architekten und Praktiker sind sich bei der Podiumsdiskussion beim Zukunftskongress der Stuttgarter Zeitung einig, dass wir nicht nur für Flüchtlinge neue Wohnformen brauchen, um die Urbanität der Wohnviertel zu stärken. Richtig angepackt wird aus der Not eine Tugend.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Stuttgart - Kaum eine Stadt, die nicht ein Lied von der Wohnungsnot singen kann. Der Bedarf ist groß und die Zeit drängt. Das Thema birgt zudem gesellschaftlichen Sprengstoff. Deshalb kann man den Titel der Podiumsdiskussion zum Auftakt des StZ-Zukunftskongresses am Mittwoch durchaus als Statement verstehen: „Wir haben keine Flüchtlingskrise, sondern ein Wohnproblem.“ Gibt es ein Konkurrenzverhältnis zwischen den Flüchtlingen und den einheimischen Wohnungssuchenden, fragte die StZ-Architektur-Redakteurin und Moderatorin Amber Sayah denn auch gleich direkt in die hochkarätig besetzte Runde.

 

In der Bewertung der Situation waren sich alle einig: Es muss gebaut werden, um mögliche Ressentiments in der Gesellschaft zwischen den diversen Interessengruppen zu vermeiden. Lukas Siebenkotten, Jurist und Geschäftsführer des Deutschen Mieterbundes, hatte eine einfache Antwort, an deren konsequenter Umsetzung es aber hapert: „Es muss endlich ein Ruck durch die Gesellschaft gehen. Wir brauchen einen Masterplan Wohnen“, forderte er und bekam dafür viel Applaus aus der voll besetzten Rotunde der L-Bank. Bund und Länder dürften nicht länger jeweils auf den anderen zeigen.

Zügig mit dem Bauen zu beginnen, das war für alle Experten die Maxime. Manuel Herz, Professor für Architektur und Städtebau an der Uni Basel, beschreibt die Ausgangsbasis als auch die einzig mögliche Handlungsoption drastisch: „Wir sind wirklich dämlich, wenn wir jetzt nicht aufwachen und bauen.“

Die Krise ist vorbei, es geht um Integration

Frank Stein, der Kämmerer der Stadt Leverkusen, die wie so viele Kommunen auf die dezentrale Flüchtlingsunterbringung setzt, machte klar, vor welchen Aufgaben die Städte momentan stehen. „Wir sind nicht mehr im Krisenmodus des Vorjahres“, sagte er. Es gehe nicht mehr darum, Menschen möglichst schnell unterzubringen, sondern um Frage „wie gestalten wir die Integration“. Aber nicht nur eine klamme Stadt wie Leverkusen stehe vor der Frage: Wie bezahlen wir das?

Kati Herzog, die bei dem Bauunternehmen Bilfinger Bauperformance GmbH als Mitglied der Geschäftsführung Ansprechpartnerin für das Thema „Wohnraum als Flüchtlingsunterkunft“ ist, sieht die Städte außerdem noch vor einer weiteren grundsätzlichen Entscheidung. Sie müssten sich entscheiden, ob sie nur für die aktuelle Krise oder ob sie nachhaltig bauen und Lösungen finden wollen, die auch für andere Nutzungen offen sind. Dass die Bereitschaft für solche Projekte vorhanden ist, berichtete die Münchner TU-Professorin für Stadtbau und Regionalplanung Sophie Wolfrum. 15 000 geflüchtete Menschen standen in der bayrischen Landeshauptstadt im vergangenen Herbst 100 000 Studenten und weiteren etwa 14 000 Studienanfängern gegenüber. Und dennoch kam von den Studenten der pragmatische Vorschlag, gemeinsame Wohnformen zu finden, um miteinander zu leben. Denn beide Bevölkerungsgruppen einen ihre Mobilität und der eher temporäre Charakter ihres Wohnens.

Es gibt zu viele Vorschriften

In einem weiteren Punkt herrschte große Einigkeit auf dem Podium. Die Mischung macht die Qualität eines Wohnviertels aus. Manuel Herz legt deshalb bei der Entwicklung neuer Wohnviertel großen Wert von sozialem Wohnungsbau, Geschäften in den Untergeschossen, hochpreisigem Wohnraum und Räumen mit offenen Grundrissen vielfältige Nutzungsmöglichkeiten zu bieten. Die Zahl der Geschosse und der gemischte Charakter von Wohnarealen könnte allerdings an veralteten Vorschriften scheitern. Das Podium war sich einig, dass dort viele Hindernisse auf dem Weg zu neuen Wohnformen liegen.

Wie aber schafft man Heimat für Neuankömmlinge unterschiedlicher Herkunft, fragte Amber Sayah zum Abschluss, indem sie das aktuelle Motto „Making Heimat“ des deutschen Pavillons auf der Architekturbiennale aufnahm. Denn nicht alle können in bereits existierenden Vorzeigeprojekten wie dem Grandhotel Imperial in Augsburg oder dem Münchner Bellevue di Monoca wohnen.

Für den Leverkusener Frank Stein geht es darum, für die Umsetzung der Ideen von der Partizipation aller, die offene Gesellschaft zu bewahren. Kati Herzog schlug vor, Menschen einen Gebäudemantel als äußere Schutzhülle zur Verfügung zu stellen, den sie dann nach ihren eigenen Bedürfnissen gestalten und sich aneignen können. Diese Wohnform ermöglicht ihren Bewohnen dann auch, „ein ganz normales Leben“ zu führen, was Sophie Wolfrum als einen Faktor des Heimisch-Werdens sieht. Für Manuel Herz muss von den neuen Bauformen und Lebensbedingungen das Signal ausgehen, dass eine Kommune nicht nur für die nächsten fünf Jahre baue, sondern dass die neuen Lösungen auf Dauer angelegt sind. In anderen Worten sagt das auch Lukas Siebenkotten: „Die Menschen dürfen sich nicht nur untergebracht fühlen.“