Der Andrang auf das Medizinstudium ist groß. Das Bundesverfassungsgericht beschäftigt sich jetzt damit, ob der Nummerus clausus unzulässigerweise die freie Berufswahl einschränkt.

Stuttgart - Zwischen Gelsenkirchen und Dortmund, wo einst die Zentrale Vergabestelle für Studienplätze (ZVS) angesiedelt war, liegen nur 35 Kilometer. Ausgerechnet das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen klagt jetzt gegen die Zulassungsbeschränkungen beim Medizinstudium, die auch die Stiftung für Hochschulzulassung als ZVS-Nachfolgerin anwendet. Schon mehrfach hatte sich die sechste Kammer des Verwaltungsgerichts mit abgelehnten Studienbewerbern fürs Medizinstudium befasst – irgendwann hat sich deren Frust wohl auf sie übertragen: Ist es mit der Freiheit der Berufswahl vereinbar, wenn fast nur Einser-Abiturienten zum Studium der Medizin zugelassen werden? Oder Bewerber, die viele Jahre Wartezeit mitbringen? Und wie gerecht ist die Auswahl über die Abiturnote, wenn die Schulsysteme in den 16 Bundesländern so uneinheitlich sind, dass sie extrem unterschiedliche Durchschnittsnoten in den Abiturprüfungen hervorbringen?

 

Auf 45 Seiten hat das Verwaltungsgericht seine Argumente und Fragen formuliert, um sie vom Verfassungsgericht prüfen zu lassen. Am Mittwoch wird darüber öffentlich verhandelt. Die mündliche Verhandlung wird viel Aufmerksamkeit erzielen, denn Vertreter von Bund, Ländern und Gewerkschaften sind zur Anhörung geladen. Es ist das erste Mal seit 40 Jahren, dass sich die Karlsruher Richter mit der Verfassungsmäßigkeit des Numerus clausus intensiv befassen müssen.

Selbst ein Abischnitt von 1,0 reicht manchmal nicht

Das letzte Urteil aus Karlsruhe zum Thema stammt vom 8. Februar 1977 und ist im Tenor zugunsten der Studienplatzbewerber ausgefallen. Karlsruhe sagte damals, die „Lebenschancen“ müssten fair verteilt werden für diejenigen, die im Prinzip als Gleichberechtigte anzusehen seien – und das seien Abiturienten. Die Verfassungshüter ergänzten, „ein absoluter Numerus clausus, der zum Ausschluss eines erheblichen Teils hochschulreifer Bewerber vom Studium ihrer Wahl“ führe, bewege sich „am Rande des verfassungsrechtlich Hinnehmbaren“.Das Ringen um einen Medizinstudienplatz ist seitdem schärfer geworden. In diesem Wintersemester bewarben sich mehr als 43 000 junge Leute auf einen der insgesamt 9176 Studienplätze in Humanmedizin. Mitte der 90er Jahre hatte noch jeder zweite Bewerber berücksichtigt werden können. Je nach Bundesland kam 2017 nur zum Zuge, wer eine Abinote zwischen 1,0 oder 1,2 hatte. An einigen Hochschulen reichte sogar die 1,0 nicht, weil konkurrierende Bewerber Bonuspunkte auf anderen Feldern gesammelt hatten.

Da die Mühlen der Justiz langsam mahlen, sind die Statistiken, die das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen zitiert, etwas älter, sie stammen aus dem Wintersemester 2013/2014. Einige Leitsätze schicken die Richter voraus: Ein Bewerber für ein Studium an einer staatlichen Hochschule habe das Recht auf eine Auswahlentscheidung nach sachgerechten Kriterien, die ihm „eine faire Chance“ lassen, einen Platz zu erhalten. Wenn dabei die Wartezeit eine Rolle spiele, dann dürfe sie nicht länger als ein normales Studium dauert. Mittlerweile aber gibt es schon Wartezeiten von bis zu 15 Semestern. Von Karlsruhe erwartet das Verwaltungsgericht eine „Verpflichtung des Gesetzgebers zur Korrektur“ des Verfahrens. Wann immer der Staat knappe Ressourcen zu vergeben habe, etwa Taxikonzessionen, Senderechte oder die Zulassung zu Messen, müsse er das nach sachgerechten Kriterien tun, die Vergabe müsse „willkür- und diskriminierungsfrei“ sein. Die Hauptstoßrichtung der Verwaltungsrichter aber ist die Spreizung bei den Abinoten in den Ländern. So hätten beispielsweise Abiturienten aus Thüringen in den Jahren von 2005 bis 2012 eine im Durchschnitt 0,35 bis 0,45 Punkte bessere Abinote als die Schulabgänger in Niedersachsen. Auch heute trifft das zu: 2017 hatten 38 Prozent aller Abiturienten aus Thüringen die Note eins vor dem Komma, in Niedersachsen waren es 16 Prozent. Dass die jüngeren Thüringer nun viel begabter seien als die Niedersachsen, sei nicht ersichtlich, sagen die Richter – und die Ergebnisse der Pisa-Schulstudie gäben das auch nicht her. Auch beim Vergleich von Mathenoten in Baden-Württemberg und Hamburg zitieren sie eine Studie, wonach die Hanseaten „signifikant bessere Noten“ erzielten als Schwaben.

Viele Uni haben eigene Auswahlkriterien

Mit Verteilungsgerechtigkeit hat das wenig zu tun. Eine andere Ungerechtigkeit liegt bei der Wartezeit: Da gibt es einige, die „leben“ auf das Medizinstudium hin, bereiten sich vor, machen eine Ausbildung als Krankenpfleger oder Sanitäter. Anderen fällt die Entscheidung zum Medizinstudium erst spät ein, und sie profitieren vom Verstreichen der gleichen Wartezeit. Diesen Missstand hat der Gesetzgeber immerhin zum Wintersemester 2018 abgeschafft.

Viele Unis haben längst eigene Auswahlkriterien, für die es Punkte gibt: Das reicht vom Bestehen eines Tests über eine Berufsausbildung und eine Ortspräferenz bis zum freiwilligen sozialen Jahr. Aber es schränkt Bewerber ein, dass sie sich nur an sechs Hochschulen bewerben dürfen. Eine Zulassungschance zu erhalten sei für einen Abiturienten mit Durchschnittsnote „in erster Linie Glückssache“, meinen die Richter in Gelsenkirchen.

Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) blickt gespannt auf den Gerichtstermin, auch er dringt auf neue Zulassungsregeln für Medizinstudenten: „Wir haben uns mit den Ländern darauf verständigt, dass Hochschulen bei der Bewerberauswahl künftig nicht nur auf gute Noten, sondern auch auf die sozialen Fähigkeiten der Studierenden achten sollen.“ Gröhe erwartet von den Ländern, dass sie weitere Reformvorhaben aus dem „Masterplan Medizinstudium 2020“ umsetzen: So soll bei der Studienplatzvergabe stärker berücksichtigt werden, wenn ein Bewerber im Rettungsdienst tätig ist, sich sozial oder in der Alten- und Krankenpflege einsetzt. „Unsere Gesellschaft des längeren Lebens braucht gut ausgebildete junge Ärztinnen und Ärzte mit Teamgeist, Begeisterung für den Beruf und der Fähigkeit, mit Patienten auf Augenhöhe zu sprechen.“ Die Abinote allein kann das nicht abbilden.