Wer ihn nur mit Hosen kannte, ging aus den Clubs zu früh nach Hause. Big Tom Yardley ist als Stuttgarts bekanntester Nackter zu einer Stadtlegende geworden. Die Clubszene trauert um ein Unikat, der in der Nacht zum Freitag mit 68 Jahren einem Krebsleiden erlegen ist.

Stadtleben/Stadtkultur: Uwe Bogen (ubo)

Stuttgart - Bei Big Tom Yardley, der „irgendwann in den 1950ern südlich von London geboren ist“, wie er zu sagen pflegte, also vor 68 Jahren in der Cannstatter St.-Anna Klinik, kam niemand auf die Idee, Exhibitionismus zu vermuten. Der Mann mit dem bürgerlichen Namen Thomas Lutz, der tagsüber ganz seriös bei einer Versicherung gearbeitet hat, machte sich selbst zur Kunstfigur. Zur späten Stunde trug Yardley in Clubs und bei Partys nur noch Ketten und seine dunkel getönte Brille. Und sah dabei so unspektakulär aus, weil er eigentlich gar nicht auffallen wollte damit. Er liebte nun mal die Freiheit – vor allem die ohne Kleidung.

 

„Mit jedem Tag des Lebens steigt zwangsläufig die Zahl derer, die mich am Arsch lecken können“, hat er in einem Interview gesagt, als er Rentner war. Warum er seit Jahren den selbigen in der Öffentlichkeit zur vorgerückten Stunde zeigte, hatte nur einen Grund, wie er verriet: „In den Clubs ist es immer so heiß. Wären dort die Klimaanlagen besser, hätte ich mich nie ausgezogen.“ An der fehlenden Frischluftzufuhr lag es also.

„Die Nachtszene verliert ein Sternenlicht“

Stuttgart trauert um ein Unikat. „Die Nachtszene verliert ein Sternenlicht“, ist in den sozialen Medien zu lesen. „Für uns Außenseiter war er ein ziemlicher Außenseiter“, hat der Musiker Andy Goldner gepostet, „irgendwie schaffte er es, seinen täglichen Job durchzuziehen, ohne sich davon komplett einvernehmen zu lassen.“ In den 1960ern spielte Big Tom Bass und Leadgitarre in der Zeit des Beats. Als er in den 1980ern beim Punk landete, sagte er;„Ich mach genau die selbe Scheiße wie 20 Jahre vorher, bloß dass sie es jetzt Punk nennen. Mir egal, solange es der Musik keinen Abbruch tut er zum Punk Beat-Zeit.“ Als Sachbearbeiter bei der Allianz hat er gearbeitet – aber dort niemals vor 13 Uhr begonnen. Dies hatte er mit seinem Arbeitgeber ausgehandelt.

Big Toms Talent als Musiker sei überschaubar gewesen, sagt sein Bruder Mathias Lutz und erinnert sich an einen Auftritt in den 1980ern. Im Grunde habe Big Tom nur ein Lied draufgehabt – „Marmor, Stein und Eisen bricht.“ Diese Nummer performte er in der Tangente, als er vor der Hauptband singen sollte. „Die Leute haben gejubelt“, erinnert sich Matthias Lutz, „und Zugabe gerufen.“ Weil sein Bruder sonst keine anderen Stücke im Repertoire hatte, sang er den Marmor-Hit halt noch mal – am Ende gar fünfmal hintereinander.

„Wer älter wird, versteht vieles besser“

In letzter Zeit war es ruhig um ihn geworden, nicht nur wegen Corona. Gesundheitlich war er angeschlagen. Als es vor einigen Jahren bei einer Nacktparty im Club Schräglage freien Eintritt für alle gab, die ihre Klamotten an der Kasse ablegte, war Big Tom natürlich dabei und spürte, dass bei den jungen Partynackten um ihn herum einiges anders geworden ist. „Wer älter wird, versteht vieles besser“, hat er gesagt. Wie sehr würde sich Yardley, der gezeigt hat, dass sich Normalität nicht einengen lässt, freuen, könnte er die vielen schönen Kommentare zu seinem Tod im Netz lesen! „Er war der herzlichste Exzentriker, denn ich je getroffen habe“, steht da. Und: „Wer sehen uns barfuß auf der anderen Seite.“ Eine Bitte ist zu lesen: „Tom, misch die Engel da oben bitte richtig auf. Warst n Guter in unsrer Stadt. Du wirst so fehlen!“

An Speiseröhrenkrebs ist er im Marienhospital gestorben

Big Tom wird am kommenden Freitag, 13 Uhr, auf dem Friedhof in Rotenberg beerdigt, wo er und sein Bruder Mathias Lutz aufgewachsen sind. „Seit zwei Jahren hatte Tom Speiseröhrenkrebs“, sagt der Bruder. Es war wieder aufwärts gegangen, die Ärzte glaubten, er überstehe die Krankheit. Doch dann kam der Rückschlag. In der Nacht zum Freitag ist das Stadtoriginal „friedlich im Schlaf“ im Marienhospital gestorben, wie sein Bruder mitteilt. Einer seiner Fans würde gern zur Beerdigung kommen, sagt er und bedauert: „Aber ich hab’ nichts Passendes zum Ausziehen.“ Solche Gags hätten Big Tom gefallen.