Die entscheidenden Dinge kommen häufig ganz unauffällig daher. Das gilt für das Leben wie die Literatur. 1960 erschien in der kanadischen Zeitung „Vancouver Sun“ ein Artikel mit der Überschrift „Hausfrau findet Zeit Kurzgeschichten zu schreiben“. Die Rede ist darin von einer gewissen Alice Munro, und das Augenmerk liegt eindeutig eher auf dem Umstand als dem Ergebnis. Acht Jahre später sieht das schon anders aus: Da erscheint der Erzählband „Tanz der seligen Geister“, der versammelt, was die Autorin in kurzen Verschnaufmomenten am Küchentisch Haushalt und Kindern abgetrotzt hat.
Die Geschichten kreisen um den Alltag irgendwo in der kanadischen Provinz, wo die 1931 geborene Alice Munro als älteste von drei Geschwistern auf einer Silberfuchsfarm aufgewachsen ist. Sie handeln von Vätern, die Tieren das Fell über die Ohren ziehen, kränkelnden Müttern, verbrühten Kindern – und sind dieser ernüchternden Motivlage zum Trotz beglückende Offenbarungen jener Kräfte, Sehnsüchte, Gefühle, die die Welt auch hinter dem unscheinbaren Deckmantel grauer Gewöhnlichkeit zusammenhalten.
Präzise Feinmechanik
Die Ahnung, dass das Große im Kleinen eingeschlossen ist, speist nicht nur die Versuche ihrer Figuren, der Enge zu entrinnen, sondern findet vollkommenen Ausdruck in der Kunst der Verknappung, durch die Alice Munro mit jedem neuen Buch die Short Story nobelpreiswürdig gemacht hat. Denn der Schein trügt natürlich auch, wenn man ihre mittlerweile 15 Bände füllenden Kurzgeschichten tatsächlich für schnellfertige Not- und Augenblicksgeburten halten würde. Mit einer biblischen Beharrlichkeit feilt die Tochter calvinistischer Einwanderer bis zu einem Jahr an einer selten mehr als 30 Seiten umfassenden Erzählung.
Die präzise Feinmechanik, mit der Verborgenes ans Licht befördert wird, verglich ihr Kollege Jonathan Franzen einmal mit Anton Tschechow: Anders als der Roman lasse die Erzählung dem Autor keinen Platz, sich zu verstecken.
Trotz ihres vorwiegend weiblichen Personals hat Munro immer betont, zwar Feministin aber keine feministische Autorin zu sein. Anders als ihre Freundin und Nachbarin Margaret Atwood entwickelt sie ihre Texte nicht aus dem politischen, sondern dem privaten Kontext: Statt Maschinenmenschen, gesellschaftlichen Dystopien begegnet man bei ihr wie in dem Band „Zu viel Glück“ einer Mutter, die nach Jahrzehnten wieder ihrem Sohn begegnet oder zwei Freundinnen, die beim Baden ein unbeliebtes Mädchen minutenlang untertauchen, bis es sich nicht mehr bewegt. Wie überhaupt der Titel in die Irre führt: Krankheiten, Unfälle und endende Ehen säumen den Weg. Aber zum Abgründigen gehört auch das, was ihm entgeht: In „Der Bär kletterte über den Berg“ triumphiert am Ende die Liebe eines alten Paars über den Betrug und die Demenz. Und in der Titelgeschichte von „Tanz der Geister“ spielt nach viel holprigem Geklimper ein Kind aus einer nahegelegenen Schule für jene, die einen „Dachschaden“ haben, Glucks „Reigen der seligen Geister“ so rein und heiter, dass alles Elend der Wirklichkeit in einem Moment „leidenschaftslosen Glückes“ aufgehoben scheint.
2006 hatte Alice Munro in einem Interview gesagt: „Ich bin der Mick Jagger der Literatur. Ich schreibe einfach immer weiter.“ Als sie 2013, ein Jahr nach dem Erscheinen der 14 Erzählungen ihres letzten Buches „Liebes Leben“ den Literaturnobelpreis zugesprochen bekam, war sie längst das, was Margaret Atwood eine „Heilige der internationalen Literatur“ genannt hat. Wenige Monate zuvor hatte sie ihren Ruhestand verkündet: „Ich werde wahrscheinlich nicht mehr schreiben“. Dabei blieb es. An diesem Montag ist Alice Munro mit 92 Jahren in Ontario gestorben.