Wer die Stille ehrt, kann Klänge schaffen: Dieses Stilmittel hat der große italienische Film-Komponist Ennio Morricone perfektioniert. Ein Nachruf.

Manteldesk: Mirko Weber (miw)

Rom - Am 27. Januar 1901 rennt auf dem Landgut der Familie Berlinghieri ein Mann durch die Felder der Emilia Romagna und ruft: „Verdi ist tot!“. Der Mann hat einen Buckel, liebt die Oper, heißt mit Spitznamen Rigoletto – und er hat Recht. Es endet ein Zeitalter, und es beginnt etwas Neues, nämlich die Moderne. „1900“ („Novecento“) hieß der Film, den Bernardo Bertolucci im Jahr 1976 zeigte, als in Italien der Kommunist Enrico Berlinguer und die Christdemokraten unter dem später von Terroristen ermordeten Aldo Moro am so genannten „compromesso storico“ arbeiteten, dem historischen Kompromiss der Duldung zwischen Anhängern prinzipiell unvereinbarer Politik- und Gesellschaftsmodelle.

 

Von der Struktur solcher Gegensätze erzählte Bertolucci in seiner Geschichte vom reichen Gutserben Alfredo (Robert de Niro) und armem, unehelichen Arbeiterinnensohn Olmo (Gérard Depardieu). Über fünf Stunden Handlung, die teilweise eine Brechtschen Parabel gleicht, mündet der Film historisch nach dem Ende des Faschismus in die Frage, wer zukünftig Herr oder Knecht sei. Bertolucci hält die Dinge in der Schwebe, und dass er das kann, verdankt er dem Komponisten Ennio Morricone, der den utopischen Charakter von Giuseppe Verdis Musik, die er kunstvoll verschränkt und weiterdenkt, betont. So lange die Musik spielt, ist die Geschichte nie aus, denn es rumoren in ihr die Themen der Zukunft.

In Sergio Leones „C’era una volta il west“, 1969 deutlich als „Spiel mir das Lied vom Tod“ eingedeutscht, ist dieses Rumoren das eigentliche Kompositionsprinzip. Keinesfalls zu Morricones Vergnügen wurde der Komponist fortan oft auf die Eingangssequenz des Films reduziert, die in eine bohrende Mundharmonikamelodie übergeht; ein Leitmotiv, das niemand in seiner Signalwirkung verkennen kann. Interessanter aber als das Einsetzen des Frösteln machenden Themas, das ein Mann spielt, der so heißt wie sein Instrument (Harmonica, dargestellt von Charles Bronson), ist jedoch der musikalische Weg dorthin. Morricone füllt ihn zunächst mit Stille, dann leisen Bewegungen in der Luft, Fliegensummen und dem unheimlichen Knarzen eines Windrads: Fünf Minuten und 43 Sekunden – also eine sehr, sehr lange Zeit im Kino – passiert im Grund genommen: nichts. Ein Bahnhof im Wüstennirgendwo, drei finstere Gestalten, kein Zug. Noch nicht.

Sergio Leone gibt Morricone alle Freiräume

Ennio Morricone (Römer vom Jahrgang 1928), der in jedem Lexikon der Musik des zwanzigsten Jahrhunderts zwischen Darius Milhaud und Conlon Nancarrow stehen müsste – und oft nur in einschlägigen Filmhandbüchern auftaucht – war im Nachkriegsdeutschland bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik zu Gast gewesen. Er hatte John Cage gehört und war angetan von Bruno Maderna und Luigi Nono. Vor allem jedoch imponierten ihm Komponisten wie Pierre Schaeffer und Pierre Henry, die sich mit Musique Concrète beschäftigten: aus Geräuschen wurden, ganz grob gesagt, Töne. Morricone, der sich, wie Schaeffer, immer mehr als Handwerker denn als Künstler betrachtete, und jedenfalls überzeugt davon war, dass seine Ästhetik nicht nur freischweben solle, sondern ans Publikum gebracht werden wollte, nutzte den Freiraum, den Sergio Leone ihm gegeben hatte: Er könne sich ruhig „aussingen“. Morricone aber sang nicht (nicht in diesem Fall), sondern suchte nach der Wahrheit auf der Straße. Ehe der Tod wirklich manisch aktiv werden kann in diesem Film, ist er bereits manifest. Morricone findet ihn in der Atmosphäre – es riecht förmlich danach.

Sich dem jeweiligen Sujet anzupassen, gleichzeitig jedoch im Gewöhnlichen das Besondere zu finden, war Morricone bereits von den Eltern mitgegeben worden, beide Musiker, der Vater als Trompeter aktiv von der Oper bis zum Jazz. Ähnlich hielt es der am Conservatorio Santa Cecilia ausgebildete Sohn, der einerseits mit den „Giallo“-Streifen, „Schund“-Filmen, darunter viele Italo-Western, Geld verdiente, andererseits Ettore Scola, Don Siegel, Brian De Palma und Pier Paolo Pasolini (um nur einige zu nennen) stets formvollendet und immer wieder überraschend bediente. Wer Ennio Morricone schreiben ließ, überantwortete auch immer die Regie zu einem Teil an ihn. Wolfgang Petersens Thriller „In the Line of Fire“ (mit Clint Eastwood) zum Beispiel ist Petersens Film, aber er hat Morricones Rhythmus, dem zwischen Cool Jazz und action-wummernder Sinfonik nichts Spannungsförderndes fremd bleibt.

Avantgarde und Volksmusik dürfen sich vermischen

In dieser Hinsicht war Morricone ein innovativer Gleichmacher. Wenn er Wirkung wollte, kümmerte ihn kaum, ob sich Avantgarde und Volksmusik kreuzten (das war ein bisschen wie bei Kurt Weill) – und nicht nur insofern ragte er weit über den Filmkomponisten heraus. Mitunter wagte er große Einsätze, wenn er zum Beispiel die Titelmusik für die „Zwei Companeros“ von Sergio Corbucci mit verfremdeten gregorianischen Chorälen unterlegte, aber der Gewinn des Publikums im Kino war durchweg beträchtlich: Morricone lehrte im Vorbeigehen Musikgeschichte. Folgerichtig hatte er volle K(l)assen. Wann immer Morricone mit Orchestern weltweit seine größten Hits („Es war einmal in Amerika“, „Zwei glorreiche Halunken“) dirigierte, waren die größten Häuser voll. Man kann, ja muss ihn in eine Reihe stellen mit Komponisten, deren Intellektualität so unzweifelhaft gewesen ist wie ihre Massenkompatibilität: George Gershwin oder eben Kurt Weill. Wobei bei über 500 Filmmusiken nicht alles gelingen kann: In den 1980-er Jahren (Belmondos Film „Der Profi“) huldigte Morricone ein wenig zu sehr der Elektronik, und es war ein Wunder, dass so etwas daheim durchging, wo seine Frau, Maria Travia, jedes einzelne Werk zuerst hörte: Nicht selten – Morricones Eigenaussage – revidierte er danach die Anlage des Stücks.

Zuletzt ließ sich der ohnehin schon mit einem Oscar fürs Lebenswerk ausgezeichnete Morricone noch von Quentin Tarantino überreden, einen Soundtrack für dessen Film „The Hateful Eight“ zu komponieren, und da passte der hypertrophe Sound der Achtziger noch gut, obwohl Morricone lieber Konzertstücke geschrieben hätte (wie „Geometrie ricercate per 8 instrumenti“). Jetzt aber müssen die Filme und deren Produzenten ohne die Musik von Ennio Morricone auskommen, die ein Bild oft bereits entworfen, umrissen und konturiert hatten, bevor es das Bild überhaupt gab. Im Alter von 91 Jahren ist Ennio Morricone in Rom gestorben.