Mit Günter Grass’ Tod geht eine Ära zu Ende. Wer rührt nun die Trommel und bricht das Schweigen eingespielter Konventionen? Doch es hat auch eine neue Ära begonnen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Stuttgart - Wer liest uns jetzt die Leviten? Wer klärt uns nun über die wichtigsten Verfehlungen unserer Gegenwart auf, wer rührt die Trommel und bricht das Schweigen eingespielter Konventionen? Bisher war dies die Aufgabe von Günter Grass. Jetzt ist er tot. Und wenn ein Großer geht, neigt man dazu, zunächst überall nur noch Zwerge zu sehen, die traurig zurückbleiben. Heinrich Heine hat die Geschichte vom Tod des großen Pan erzählt. Auf die Verkündung seines Dahinscheidens habe die Natur mit sonderbaren Klagetönen geantwortet, „einem Gemisch von Seufzen und Geschrei der Verwunderung, wie von vielen zugleich erhoben“.

 

So ähnlich wird es nun klingen, in den nächsten Tagen, hier und in anderen Medien. Und dies sicher nicht, weil Grass in jungen Jahren einem struppigen Naturdämon tatsächlich auffallend ähnlich sah, sondern weil er es auf sehr geschickte Weise verstanden hat, mehrere widersprüchliche Rollen in sich zu vereinen. Da ist zunächst die des engagierten, wachen Zeitgenossen, der für Willy Brandt in den Wahlkampf zog, der sich kritisch zu Asyl- und Flüchtlingspolitik äußerte und zu bestimmen schien, wann welche Themen und Wahrheiten den Leuten zuzumuten seien. In diesem hin und wieder durchaus allzu Gegenwärtigen aber wohnte ein Dichterbild, das aus ganz anderen Zeiten und Schichten stammt. Es ließ ihn zum Autor einiger großer Romane werden und sicherte ihm als öffentliche Figur ein Ansehen, wie es in vormodernen Zeiten das Privileg von Sehern und Propheten war.

Ohne Pomp die Debatte bestimmen

Grass durfte sich zu Dingen äußern, die thematisch eigentlich jenseits seines engeren Kompetenzbereiches lagen: sein Robbenbart stand wie die Baskenmütze Heinrich Bölls oder die Hornbrille Heiner Müllers nicht nur für eine bestimmte Schreibweise der Nachkriegsliteratur, sondern auch für Ereignisse der Zeitgeschichte. Die Großschriftstellern dieses Schlages von der Gesellschaft, anders als Sportlern, Musikern oder Firmenbossen, eingeräumte Allzuständigkeit wurde Grass auch dann noch gewährt, wenn munteres Orakeln und Dampfplauderei schwülstig durcheinanderwaberten.

Der Dichter sieht anderes, und er sieht mehr als der sich im Partiellen verausgabende Experte. In der entzauberten säkularisierten Welt ist der einst von Gott inspirierte und zum Wahrsprechen Begabte zum Unheilspropheten geworden, zum Warner und Mahner, der außer einer biegsamen Sprache über einen außerordentlich ausgebildeten Zeigefinger verfügt. Auch wenn Grass sich nicht immer dessen bewusst war, dass dabei drei Finger auf den Mahner selbst zurückweisen wie im Falle seiner viel zu spät eingeräumten Zugehörigkeit zur Waffen-SS in den letzten Kriegsjahren.

Andererseits: wer in einem Roman wie der „Blechtrommel“ darzustellen vermochte, wie sich in einer Stadt wie Danzig der Nationalsozialismus in die Gemüter gräbt, wer den kleinbürgerlichen Mief in ein dichtes Sittenbild zu fassen vermochte, aus dem die geschichtliche Wahrheit entgegenleuchtet, der durfte mit Recht eine Stimme beanspruchen, wenn es im Nachkriegsdeutschland darum ging, Fragen der Schuld und Verantwortung zu klären.

Nun ist der Welterklärungsthron vakant. Aber bei aller Trauer: in seinem Schatten hat sich längst eine demokratische literarische Öffentlichkeit herausgebildet, die ohne Pomp die Debatte bestimmt. Autorinnen wie Juli Zeh zielen in ihren Werken und ihrem Wirken mindestens so sehr auf gesellschaftliche Kernthemen wie das autoritative Wort der einstigen Dichterkönige. Und natürlich wird man auch nach Grass wissen wollen, was Schriftstellern, Dichtern und Denkern zum Gang des Weltgeschehens einfällt. Daran wird sich vermutlich auch dann nichts ändern, wenn einer von ihnen wieder einmal ordentlich danebengelangt hat.