Nach seinem Rücktritt als Außenminister blieb Hans-Dietrich Genscher in der Politik eine Schlüsselfigur. Er konnte nie ganz von der Macht lassen. Auch Guido Westerwelle ließ sich regelmäßig von ihm beraten.

Stuttgart - Hans-Dietrich Genscher liebte die Macht. So ganz konnte er nicht von ihr lassen, auch nicht nach seinem offiziellen Rückzug. Dem Menschen Genscher merkte man das nicht an. Und vielleicht war dies sein größter Trumpf: seinem Gegenüber stets auf Augenhöhe zu begegnen. Freundlich, zuvorkommend, aufmerksam; vor allem auch: humorvoll. Im Gespräch machte dieser kleine Mann andere größer. Und erreichte deshalb umso leichter seine Ziele, die er mit einer Härte verfolgte, die man ihm im persönlichen Kontakt nicht so ohne Weiteres zutraute. Ja, man musste sich in Acht nehmen vor diesem Menschenfänger. Sonst tat man womöglich, was er wollte, ohne dass er es je gefordert hätte.

 

Gespräche mit ihm hatten stets etwas Vertrautes, etwas überaus Verlässliches. Und so kann man sich leicht vorstellen, wie groß die Enttäuschung bei den Sozialdemokraten 1982 gewesen sein musste, als Genscher beim Kanzlersturz Helmut Schmidts hinter dessen Rücken bei der FDP die Strippen zog und klammheimlich bei Helmut Kohls CDU anheuerte.

„Wir sind Suchende“, sagte Genscher über seine Generation

Die brutale Radikalität dieser Wende mag nicht so recht zu diesem bescheiden wirkenden Mann passen, der mir, dem mehr als 40 Jahre jüngeren, zuletzt im Jahr 2012 bei einem sehr persönlichen Gespräch in seinem Haus im beschaulichen Wachtberg bei Bonn in seinem Ohrensessel die Welt, vor allem auch die FDP erklärte. Eines ist mir da klar geworden: Dieser Mann hatte eine weiche Schale – und einen sehr harten Kern.

„Wir sind Suchende“, sagte Genscher damals über seine Generation, die das Nachkriegsdeutschland im Westen geprägt hat. Er hätte auch sagen können: Getriebene. Das erlittene Wissen um das Falsche – den Rassenwahn der Nazis, den Irrsinn des Krieges – habe ihn und andere geradezu dazu verdammt, immerfort danach zu suchen, was denn das Richtige sei, sagte Genscher damals. Freiheit, das merkte man ihm an, war für ihn mehr als nur ein Wort, und Ideologien jeglicher Prägung misstraute er. Wer einen wahren Liberalen besichtigen wollte, der musste bei ihm klingeln.

Er mischte mehr mit, als es seiner Partei manchmal lieb war

Mit Genscher geht einer der Letzten, der jenen, die keinen Krieg erlebten, aus eigener Anschauung ins Stammbuch schreiben konnte, dass man sich in einer Demokratie einmischen muss, wenn sie nicht den Falschen in die Hände fallen soll. Gleichgültigkeit war für ihn keine akzeptable Lebensart. Deshalb mischte er mit, solange es seine Kräfte zuließen. Mehr, als es seiner Partei manchmal lieb war. Bis zur Bundestagswahl hieß es, wer in Grundsatzfragen nicht die Zustimmung des Patriarchen habe oder –schlimmer noch – die Erfolgsaussichten der Partei gefährde, sei politisch in äußerst kritischem Zustand.

Das Ende Guido Westerwelles an der Parteispitze soll 2011 erst endgültig besiegelt gewesen sein, als Genscher im Hintergrund dessen Ablösung betrieb. Wobei sich übrigens in der Partei hartnäckig die Legende hält, dass Genscher in Telefonaten neben dem Nachfolger Philipp Rösler auch Daniel Bahr und Christian Lindner ermuntert habe, Westerwelle abzulösen. Das würde zu Genscher passen, dem es schon wichtig war, stets garantiert auf der Seite des Siegers zu stehen.

Der letzte Coup gelang ihm mit 86 Jahren

In den Anfangsjahren der schwarz-gelben Koalition unter Kanzlerin Angela Merkel war Genschers Einfluss auf den Außenminister Guido Westerwelle von großer Bedeutung, der – was für eine beklemmende Laune des Schicksals – an diesem Samstag in Köln zu Grabe getragen wird. Als Westerwelle das Außenamt 2009 übernahm, beriet er sich oft mit Genscher und wirkte mitunter wie dessen Kopie.

Westerwelle offenbarte damit in manchen Momenten ungewollt auch, wie sehr Genschers außenpolitischer Ansatz mittlerweile aus der Zeit gefallen war. Geprägt von der Frontstellung des Kalten Krieges und dem Umstand, dass zu seiner Zeit Deutschland nicht als vollständig souveränes Land agieren konnte, hatte es sich Genscher noch leisten können, sich aus internationalen Konflikten weitgehend herauszuhalten. Westerwelle ging, von Genscher befeuert, einen ähnlichen Weg. Aber die Erwartungshaltung der Partner an den Gestaltungsanspruch Deutschlands war mittlerweile eine andere geworden, was zwischenzeitlich erhebliche Irritationen auslöste.

Ein letzter Coup gelang Genscher im Jahr 2013, im Alter von 86 Jahren. Da rang er Russlands Präsidenten Wladimir Putin in geheimen Verhandlungen die Freilassung des Kremlkritikers Michail Chodorkowski ab und organisierte dessen Flug in die Freiheit, nach Berlin. Ja, Genscher liebte Macht und Einfluss. Und er wusste sie zu nutzen. Das Gute war: stets der Demokratie und dem Land zu Diensten.