Sklaverei, Rassismus, Gewalt und Heuchelei: Die afroamerikanische Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison hat die USA stets an ihre Sünden erinnert. Nun ist die entschiedene Gegnerin von Donald Trump im Alter von 88 Jahren gestorben.

Stuttgart - Es wurde schnell ungemütlich, als die afroamerikanische Literaturnobelpreisträgerin Toni Morrison in Stockholm jene Vorlesung hielt, zu der alle Empfänger dieser Ehrung verpflichtet sind. So gut lesbar die Romane dieser Autorin sind, aufs Wegträumen aus der Realität sind sie nicht angelegt, nicht einmal dann, wenn sie übersinnliche Elemente enthalten, wenn Gespenster in ihnen auftauchen. Und so dachte die Preisträgerin des Jahres 1993 laut über lebendige und über tote Sprache nach und meinte mit letzterer keine ausgestorbenen Dialekte. Sie zielte auf eine sinnentleerte Sprache der Mächtigen von gestern, auf leeres Geplapper in den Medien und verkalkte Vornehmheit in den Bildungshallen.

 

Durch all das werde anderen ihre Sprache genommen, mahnte sie. Und so malte sich Morrison, die am Montag in New York im Alter von 88 Jahren gestorben ist, Kinder aus, die ihre Zungen abgebissen hätten und Geschosse nutzen würden, um den Abgrund ihrer Sprachlosigkeit hörbar zu machen. Die 1931 in bettelarmen Verhältnissen Geborene hat immer von beidem erzählt, von der Suche nach individuellem Glück und von einer Gesellschaft, die darauf ausgerichtet ist, Unglück, Leid und Ungerechtigkeit zu produzieren.

Keine Gegenwart ohne Vergangenheit

Nach vorne schauen, die Zukunft herbeischreiben, das wäre ein nettes Programm für afro-amerikanische Autorinnen, hat sich mancher Leitartikler in den USA schon gedacht. Morrison aber hat konsequent zurückgeschaut und in Romanen wie „Sehr blaue Augen“ (1970), „Solomons Lied“ (1977), „Menschenkind“ (1987) und „Gnade“ (2010) von den Zeiten der Sklaverei, der offenen Rassentrennung im Süden und des Alltagsrassismus im Norden erzählt und dabei klargemacht, dass kein noch so kleiner Teil der Gegenwart denkbar ist, in dem nicht viele Moleküle der Vergangenheit präsent sind.

In einem Interview mit unserer Zeitung im Jahr 2018 hatte Morrison Donald Trump einen „rassistischen Vollidioten mit orangen Haaren“ genannt und bitter bilanziert: „Die Vereinigten Staaten wurden von Weißen für Weiße gegründet. Amerikaner zu sein heißt, weiß zu sein.“ Doch auch wenn sie zu solch unerbittlicher Härte fähig war, ihre Romane sind keine Schlagwerke, die Satz um Satz auf etwas einhämmern, das einem auf der ersten Seite schon als verwerflich begreiflich wird. Toni Morrison zeigt am Beispiel ihrer Figuren differenziert, ergreifend, erschreckend und manchmal auch erhebend die vielfältigen Verwirrungen, Verwundungen, Verkrüppelungen, die ein weißes Amerika seinen schwarzen Bürgern zufügt, und zugleich die vielen Formen der Rückzugsversuche, der Gegenwehr, der Selbstheilung – und des Aufgebens.

Enteignung und Verdrängung

Morrison, die ab 1989 an der Elite-Universität Princeton einen Lehrstuhl für Geisteswissenschaften inne hatte, war eine beeindruckende, um nicht zu sagen, einschüchternde Erscheinung in der akademischen Welt der USA. Schneidend klar und ihrer Quellen sicher, hat sie auf Enteignung, Verdrängung, Herabsetzung hingewiesen: darauf, wie afro-amerikanische Kultur vom weißen Amerika lange zur Randerscheinung erklärt wurde, und darauf, wie eine eurozentrische Geisteswissenschaft im globalen Maßstab die Leistungen Afrikas negiert.

Aber „Schweigen wird gebrochen, Verlorenes ist wiedergefunden worden“, benannte sie hoffnungsvoll einen Wandel, der unter anderem die Erzählungen der Sklavinnen und Sklaven von einst in die Literaturgeschichte integriert. Ihre eigenen lebensprallen, realitätssatten, tonartenreichen Romane und klugen Aufsätze sind selbst schon ein Kulturerbe der ganzen Welt. Vielleicht werden sich künftige Generationen an Donald Trump auch nur noch erinnern, weil Toni Morrison ihn hie und da verachtungsvoll erwähnt hat.