Seine Werke sind politisch und poetisch, verwirrend und glasklar – und wurden selbst in Fußballstadien verkauft. Zum Tode des kolumbianischen Schriftstellers Gabriel Garcia Marquez, der mit seinem magischen Realismus weltweit erfolgreich war.

Mexico-City - Als Gabriel Garcia Marquez das Manuskript seines Romans „Hundert Jahre Einsamkeit“ mit der Post in Mexiko-Stadt, wo er wohnte, nach Buenos Aires zum Verlag Sudamericana schicken wollte, hatte er nicht mehr genug Geld, um die Paketgebühr zu bezahlen. Anderthalb Jahre hatte er an dem Buch geschrieben. Längst waren alle Ersparnisse aufgebraucht, waren Auto, Fernseher, Radio und der Schmuck seiner Frau verkauft oder verpfändet, der Kredit beim Hauswirt und beim Metzger aufs Äußerste strapaziert. Nun fehlten einige Pesos für das Porto. Kurz entschlossen teilte der Autor das Konvolut, schickte die ersten zehn Kapitel ab, trug noch den Fön, den Mixer und einen kleinen Heizkörper ins Leihhaus und packte vom Erlös ein zweites Paket. Als er das Postamt verließ, sagte seine Frau zu ihm: „Gabo, jetzt fehlt nur noch, dass der Roman schlecht ist.“

 

Diese Anekdote aus dem Jahr des Durchbruchs 1967, die der Garcia-Marquez-Biograf Dasso Salivar erzählt, ist, ob wahr oder nur kolportiert, ein Beleg dafür, wie das Leben dieses Schriftstellers schon früh legendenhafte Züge angenommen hat. Von fantastischen und wundersamen Episoden überwuchert sind die Studienjahre in Cartagena, die Hungerjahre in Paris – wo er sich unter anderem als Nachtclubsänger und Pfandflaschensammler durchschlug – ebenso wie die Jahre des Welterfolgs, als er mit Staatsmännern und Revolutionären auf gleicher Augenhöhe verkehrte. Umgekehrt entspringt manche unglaubliche Szene, manch unerhörter Charakter seiner Werke dem eigenen Leben oder dem eines Verwandten – wenn auch hier wahre Begebenheiten und Fiktionales schwer zu unterscheiden sind.

Modern und handlungsstark, reflektierend und unbekümmert

„Wunderbare Wirklichkeit“ oder „magischer Realismus“ lauten die Etiketten, die den literarischen Welten dieses Autors und vielen seiner lateinamerikanischen Kollegen aufgedrückt wurden, um etwas auf den Begriff zu bringen, was sich den eigenen Kategorien beharrlich entzog.

Zwei unzertrennliche Freunde: Revolutionsführer Fidel Castro und Literaturnobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez 2000 in Havanna Foto: AFP
„Verdammt, so kann man also auch schreiben“, dachten Leser, Kritiker und Literaturwissenschaftler, als sie „Hundert Jahre Einsamkeit“ – oder „Das grüne Haus“ von Vargas Llosa oder „Rayuela“ von Cortazar oder die Romane von Carlos Fuentes – in die Finger bekamen, Finger, die sich müdgeblättert hatten am europäischen „nouveau roman“ und seinen ausgebluteten avantgardistischen Verwandten.

„So“ schreiben – das hieß modern und handlungsstark, politisch und poetisch, realistisch und fantastisch, verwirrend und glasklar, die eigenen Mittel absichtsvoll reflektierend und zugleich unbekümmert draufloserzählend, wie es einst möglich war und nun unmöglich schien.

Der „Boom“ der Literatur Lateinamerikas nährte sich, neben dem Reiz des Exotischen, vor allem aus dieser Freude, große, anspruchsvolle Erzählkunst vorzufinden, die sich mit Vergnügen, ja lustvoll lesen ließ; führte aber zur Reduktion auf das „magische“ Element, das man umstandslos mit der besonderen Wirklichkeit des Subkontinents gleichsetzte – vor der Kulisse fremder Vegetation glaubt man jede Levitation. Dabei stammt der zitierte Stoßseufzer von Garcia Marquez selbst, dem erfolgreichsten Vertreter des „Booms“. Er entfuhr ihm bei der Lektüre von Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“, genauer: schon bei deren erstem Satz. Kafka hat er neben Faulkner als den Schriftsteller bezeichnet, der ihn entscheidend geprägt habe.

Sein großes Vorbild der Prager Schriftsteller Kafka

Der erste Satz – der schlägt auch in den Werken von Gabriel Garcia Marquez den Leser in Fesseln, um ihn bis zum letzten nicht mehr loszulassen. In „Hundert Jahre Einsamkeit“ entspringt aus diesem Satz die gewaltige und gewaltsame Geschichte eines Kontinents, in „Der Herbst des Patriarchen“ die surreale Atmosphäre im leeren Zentrum der Macht, in „Chronik eines angekündigten Todes“ die Unausweichlichkeit, mit der sich ein Mord vollziehen wird, den keiner will und keiner verhindert. Ähnlich wie bei Kafka schießt die Komplexität eines literarischen Universums in Bildern zusammen, die sich zwar beschreiben, aber nicht auflösen lassen. Eine Galeone im Urwald: Kühe in einem verlassenen Palast; fassungslose Dörfler im Kreis um einen Toten aufgestellt.

Bei Kafka hat Garcia Marquez nicht lernen müssen, wie das Unglaubliche durch die Selbstverständlichkeit, mit der es erzählt wird, wahr wird – das hat er, wenn überhaupt, von seiner Großmutter gelernt; die Lektüre des Prager Dichters zeigte diesem Kolumbianer aber, dass man so auch schreiben kann.

Die Leser in aller Welt lieben seine Bücher

Kritiker mögen darüber streiten – und sie haben darüber gestritten –, welcher der drei genannten Romane der schönste, der bedeutendste, der perfekteste sei. Die Schöpfungs-, Aufstiegs- und Untergangsgeschichte des mythischen Dorfes Macondo, die intensive und künstlerisch gewagteste Analyse der Diktatorenfigur oder die scharfe Abrechnung mit Machismo und Fatalismus? Und ob nicht auch anderen Titeln wie „Der Oberst hat niemand, der ihm schreibt“, „Die Liebe in Zeiten der Cholera“ oder „Der General in seinem Labyrinth“ zumindest eine Nebenkrone gebührt. Die Leser müssen sich nicht entscheiden, sie lieben alle diese Bücher.

Wohl kein Literaturnobelpreisträger der letzten 40 Jahre – Garcia Marquez erhielt ihn 1982 – hat einen vergleichbaren Erfolg beim Lesepublikum. Seine „Chronik“ wurde in Supermärkten und Autobussen, am Ausgang von Kinos und Fußballstadien verkauft. Jedes Buch startete in der

Der Literaturnobelpreisträger 2007 in Mexiko. Foto: AFP
spanischsprachigen Welt mit einer Million Exemplaren, und Übersetzungsrechte wurden in Dutzende Länder vergeben. Dass Hanser und Rowohlt die „Hundert Jahre Einsamkeit“ seinerzeit ablehnten (zur Freude von Kiepenheuer), wird sie noch heute ärgern.

Dieser Roman, mit dem 1967 Garcia Marquez‘ Welterfolg einsetzte, ist, aller anderen Werke ungeachtet, sein Opus magnum, seine Summa, der Roman, der ihn zum Schriftsteller machte und seine Heimat unsterblich. Macondo, der fiktive Name des Dorfes Aracataca, in dem „Gabo“ die ersten acht Jahre seines Lebens verbrachte, ist ein strahlender Punkt auf der Landkarte der Weltliteratur geworden, wie Marcel Prousts Combray oder Faulkners Yoknapatawpha County.

Ein gehöriger Batzen Familien- und Kindheitsgeschichte

In „Hundert Jahre Einsamkeit“ ist ein gehöriger Batzen Familien- und Kindheitsgeschichte eingegangen, es ist aber auch, in die Nussschale eines Dorfes gepackt und zugleich mythisch überhöht, die Geschichte eines Kontinents, von den paradiesischen Ursprüngen über die Eroberungszüge von Kolonisatoren, den Würgegriff nordamerikanischer Ausbeutung bis zur apokalyptischen Vision des Untergangs. Es ist ein von Personal und Episoden berstender Roman über Unterdrückung und Auflehnung, Selbstbestimmung und Fatalität, der in einer Familiendynastie die Geschichte der Menschheit durchspielt. „Hundert Jahre Einsamkeit“ – das ist die Bibel und das „Kommunistische Manifest“ Lateinamerikas und zugleich der bedeutendste Roman, den dieser Kontinent hervorgebracht hat.

15 Jahre hatte der Autor sich immer wieder an diesem Stoff versucht, ihn in Skizzen und Vorarbeiten umkreist; 15 Jahre war er gescheitert, bis ihm schließlich der Durchbruch und, in einem mexikanischen Schaffensrausch,

Marquez reist zusammen mit seiner Frau Mercedes Barcha 2007 in seine kolumbianische Heimatstadt Aracataca – eine Rückkehr nach 25 Jahren Abwesenheit. Foto: AP
die Vollendung gelang. Wenn nicht – dann wäre Garcia Marquez, was auch nicht wenig wäre, wohl als engagierter und mutiger Journalist in Erinnerung geblieben. Das war sein ursprünglicher Beruf, und zu ihm kehrte er, seinen literarischen Weltruhm nutzend, immer wieder zurück.

Sein Leben lang setzte er sich für politische und publizistische Projekte ein, gründete hier eine Zeitschrift, steckte dort Preisgeld in eine Stiftung, munterte da desillusionierte Linke auf, vermittelte anderswo zwischen Regierung und Guerilla. Bis zuletzt hielt er Kuba und seinem „Máximo Líder“ Fidel Castro die Stange – und an der Vision einer politischen Emanzipation Lateinamerikas fest, als einer selbstbestimmten Gegenkraft zu den Vereinigten Staaten.

Er starb im Alter von 87 Jahren in seinem Haus in Mexico-City

Schließlich wurde „Gabo“, wie ihn kumpelhaft alle nannten, denen er mal die Hand gedrückt hatte, selbst zu einem mythischen Tier: In ihm schossen die Idealfiguren des Intellektuellen und des Erzählers zusammen. Er war der, der den Menschen seines Kontinents über ihre Vergangenheit und deren Deutung eine Identität gab, ihnen aber auch den Weg in eine große Zukunft weisen wollte. Die lesende Welt hat ihm dabei fasziniert zugesehen. Die Allmacht des Erzählers, die er wieder installierte, ist schließlich die einzige Macht, der wir uns alle gerne unterwerfen.

Dass er schwer krebskrank war, wusste man seit Jahren. Er hat sich noch den wild ausfabulierten ersten Teil seiner Autobiografie – „Leben, um davon zu erzählen“ – und die etwas zweifelhafte Novelle „Erinnerung an meine traurigen Huren“ abgerungen. Zum Krebs kam noch die Demenz. Im März, zu seinem Geburtstag, trat er noch einmal vor seine Haustür und winkte Journalisten zu, die ihm ein Ständchen sangen. Am Donnerstag ist Gabriel Garcia Marquez im Alter von 87 Jahren in seinem Haus in Mexiko-Stadt gestorben.