Wie ist es, wenn man mit zwei Kindern unter der Armutsgrenze lebt? Eine Alleinerziehende aus dem Kreis Esslingen erzählt.

Böblingen : Ulrich Stolte (uls)

Esslingen - Wenn ich meine Kinder nicht gehabt hätte, ich hätte es nicht geschafft“, sagt Anita S.. Aber was heißt geschafft. Noch immer ist sie krank, noch immer kann sie ihren Beruf als Ausbilderin nicht ausüben. Bis vor zwei Jahren hatte sie ein ganz normales Leben in einer kleinen Gemeinde im Kreis Esslingen. Dann kam die Scheidung, dann hatte sie einen Unfall. Ein Arzt in Ulm verpfuschte die Operation, zwei Nachoperationen waren notwendig. Sie konnte nicht mehr arbeiten, Unterhalt floss zu wenig, denn ein Anwalt hatte sie falsch beraten. Jetzt hat sie nach Abzug der laufenden Kosten maximal 200 Euro im Monat für sich und ihre beiden Kinder.

 

Der Kreis Esslingen zählt zu den reichsten Landkreisen in Deutschland. Unter seinen rund 530 000 Einwohnern gibt es rund 6300 Bezieher von Hartz IV, davon sind rund 2500 alleinerziehende Männer und Frauen. Nicht viel, denkt man, doch Anne Burkhardt von der Beratungsstelle der Kreisdiakonie weiß, dass dies nur die Spitze eines Eisbergs ist. Die Diakonie hat keine Zahlen darüber, wie viele Menschen Wohngeld benötigen, um sich die Miete leisten zu können, sie hat auch keine Zahlen darüber, wieviele Menschen im Landkreis mit ihrem Gehalt gerade so über die Runden kommen.

Der Reichtum Deutschlands geht an den Bürgern vorbei

Bundesweit gibt es Zahlen. Die Einkommensgrenze derer, die als armutsgefährdet gelten, liegt bei 1033 Euro pro Monat. Das sind 16,7 Prozent der Bevölkerung. 1998 betrug die Quote laut der Internet-Enzyklopädie Wikipedia nur 10,6 Prozent und ist seitdem stetig steigend. Als arm gilt, wer nur 40 Prozent vom Durchschnittseinkommen zur Verfügung hat. Zur Zeit sind das 781 Euro netto, bei Paaren 1171 Euro, schreibt das statistische Bundesamt.

Deutschland gilt zwar als reiches Land, aber der Reichtum geht an den Bürgern vorbei. Nach einer Studie des Global Wealth Report des Credit Suisse Research Institute’s liegt Deutschland beim durchschnittlichen Vermögen auf dem vorletzten Platz unter den europäischen Staaten, nur die Portugiesen sind noch ärmer.

Wer wie Anita S. arbeitslos wird nach einer Krankheit und Lebenskrise, der steht vor einem Dschungel von Behörden, der keine Rücksicht darauf nimmt, in welcher psychischen und physischen Verfassung ein Antragsteller ist. Bei Anita S. fing es schon damit an, dass sie nicht wusste, wie sie den Hartz IV Antrag ausfüllen muss. Viele Hilfsangebote nahm sie deswegen nicht wahr, weil ihr schlichtweg niemand davon erzählt hatte, dass es sie gibt. Und selbst wenn. Sie musste mit der Krankheit fertig werden, die Kinder brauchten in der schwierigen Zeit der Trennung die Zuwendung der Mutter, und dann war es schwer, jene ruhigen Minuten zu finden, in der sie sich um die Bürokratie kümmern konnte. Für sie war es ein ständiger Kampf.

Hilfe beim Ausfüllen der Anträge ist nötig

Eberhard Haußmann, der Chef der Kreisdiakonie, kennt diese Schwierigkeiten. „Die Leute müssen Hartz IV beantragen, sie müssen auf die Wohngeldstelle, sie müssen das Geld vom Bildungs- und Teilhabepaket beantragen und vieles mehr.“ Sein Vorschlag ist es, bei den Job-Centern eine Stelle zu schaffen, die den Antragstellern beim Ausfüllen hilft.

Hoffnung? Anita S. erlebt ihre Armut vor allem als Ausgrenzung. Die Teilhabe an irgendeiner Form von sozialem Leben wird schlichtweg unmöglich. Der Gang ins Kino, Essen gehen, oder ein Ausflug scheitert schon allein daran, dass das Geld für den Transport fehlt. Was sie selbst noch irgendwie ertragen könnte, schmerzt sie besonders bei ihren Kindern.

„Auch die Schulen nehmen meist keine Rücksicht auf Arme“, berichtet Anne Burkhardt von der Diakonie. Sie forderten Beiträge zu Lehrmitteln und wer kein Geld hat für das Schullandheim, der bleibt halt zuhause. Und selbst wenn: Genauso schwer wie mit wenig Geld über die Runden zu kommen, ist es, Hilfe anzunehmen. Denn zur Armut kommt immer noch die Stigmatisierung.

Hoffnung gab es dann aber doch. Anita S. ältestes Kind sollte konfirmiert werden, und sie hatte weder Geld für anständige Kleider noch für ein halbwegs akzeptables Fest. So erfuhr sie, dass die Kreisdiakonie eine eigene Beratungsstelle unterhält, und auch, dass es in solchen Fällen eine Beihilfe gibt, ohne viel Bürokratie.

Hier erfuhr sie zudem von den verschiedenen Hilfsangeboten im Kreis. Inzwischen hat Anita S. in einem sicher schmerzlichen Prozess gelernt, Hilfe anzunehmen. Mit den wenigen Freunden, die ihr geblieben waren, stellte sie sich in die Küche und schaffte es, ein bescheidendes Festessen zu organisieren.

„Bis hierher bist Du gekommen, und jetzt machst Du weiter“, das sagt sich Anita S. immer wieder, wenn sie den Kampf mit den Formularen aufnimmt. Sie macht weiter, auch wenn sie ausgegrenzt wird, wenn sie nicht weiß, wie sie das Mitbringsel für die Kinder bezahlen soll, wenn diese auf einen Geburtstag eingeladen sind. Mittlerweile empfindet sie jede Feier, jedes gesellschaftliche Ereignis als Wetteifern ums Geld. Sie weiß aber auch eines. Jene, die jetzt auf sie herabsehen und sie ausgrenzen, kann es selbst treffen, jederzeit. Auch in diesem Landkreis Esslingen, der zu den reichsten in Deutschland gehört.