Nach mehr als 20 Jahren im Gefängnis beginnt ein Mann ein neues Leben. Sein Fall zeigt, dass Therapie und Resozialisierung funktionieren können.

Stuttgart - Sein erstes Mal war in Südeuropa. Vier Monate lang freie Kost und Logis – das bedeutete für Frank Sieber die Haftstrafe, die er für einen Autodiebstahl absitzen musste. Die unwirtliche Zelle, die Gitter vor dem Fenster, durch die wenig Licht und kaum etwas von der warmen Luft drang: „Machte mir nix“, sagt er. Die Jahre, die Sieber seitdem nicht im Gefängnis saß, kann er fast an einer Hand abzählen.

 

Sieber, der eigentlich anders heißt, sitzt im Beratungszimmer der gemeinnützigen Bewährungshilfeorganisation Neustart im Stuttgarter Westen. Seit drei Jahren hat er seine Freiheit wieder – und die Hoffnung, dass ihm ein neues Leben gelingen wird. Jetzt will er alles richtig machen. Er hat seine erste eigene Wohnung und zum ersten Mal einen festen Job, von dem er leben kann. Aber er steht unter Führungsaufsicht, weil die Richter keine andere Wahl sahen, als für den Wiederholungstäter bei seiner letzten, der siebten Verurteilung, Sicherungsverwahrung anzuordnen.

Deswegen trifft er einmal pro Monat seine Bewährungshelferin, die ihn beim Neustart begleitet. Surfen im Internet, das Handy bedienen, die Finanzen im Blick behalten – alles simple Dinge, die einen, der so lange weggesperrt war, überfordern. Marianne Matheis von Neustart hilft Frank den Alltag zu bewältigen und kontrolliert, dass gerichtliche Auflagen erfüllt werden.

„Ich war Krimineller aus Leidenschaft“

Jemanden wie Frank betreut auch sie nicht alle Tage. „Klienten mit einer so komplexen Problematik stellen hohe Anforderungen an die Bewährungshilfe“, sagt Marianne Matheis. Aber es sind genau diese Fälle, die Sozialarbeiter wie sie antreiben und die bei der aktuellen Diskussion um Sicherungsverwahrung und Wiedereingliederung von Straftätern in die Gesellschaft zeigen: ja, es kann funktionieren. Auch bei den nahezu Unverbesserlichen.

Bei Frank sah es lange nicht so aus, als entkomme er der Spirale aus Lügen, Drogenhandel, Einbrüchen und Betrügereien. Keine noch so hohe Strafe konnte ihn schrecken, kein Appell drang zu ihm durch. „Ich war Krimineller aus Leidenschaft“, sagt Frank, er trägt ein offenes Lächeln im Gesicht. Die dunklen Haare sind frisiert, er macht einen höflichen, sympathischen Eindruck, und wenn er seine große, stattliche Figur aufrichtet, steckt er etwas verlegen die Hände in die Jeanstaschen. Frank sieht nicht aus wie jemand, vor dem man Angst haben müsste, wenn man ihm nachts alleine auf der Straße begegnet. „Es war ein langsamer Prozess. Aber heute bin ich ein anderer“, sagt er.

Gefängnisausbrüche, Drogenhandel und erneute Verurteilungen

Der Frank von damals heckte im Gefängnis die nächsten krummen Dinger aus. „Man lernt da auch die entsprechenden Leute kennen. Ich wollte nur rauskommen, um draußen weiterzumachen.“ Und so kam es. Immer wieder.

Als sich die Gefängnistore für den jungen Frank Sieber 1984 wieder öffneten, lebte er von Einbrüchen, bis er genug Geld für seinen ersten Drogeneinkauf zusammengestohlen hatte. 3000 Mark kostete das Kilogramm Haschisch damals in Holland, mehr als das Doppelte war es den deutschen Käufern wert. Ein lukratives Geschäft, wenn man nicht geschnappt wird. 1985 saß Frank wieder elf Monate.

Zwei Monate war er frei, bis er wegen Diebstahls neun Monate bekam. Im gelockerten Vollzug floh er und stellte sich, als ihm der Winter draußen zu kalt wurde. Nach der Entlassung im Jahr 1987 waren es wieder nur zwei Monate bis zur nächsten Verurteilung wegen Drogenhandels. Im Hafturlaub haute er ab, brach in eine Firma ein, wurde geschnappt und saß bis Sommer 1990.

Versuchter Totschlag und immer auf der Flucht

Danach packte er den Kofferraum seines Kleinwagens wieder voll mit Haschisch, aber diesmal endete die Fahrt übel: bei einer Kontrolle an der grünen Grenze drehte er durch, gab Gas und streifte einen Polizisten. Er floh, konnte beim nächsten Drogenhandel aber gefasst werden. Sechs Jahre musste er diesmal hinter Schloss und Riegel, für den angefahrenen Beamten, der die Attacke fast unverletzt überstand, wurde Frank 1992 wegen versuchten Totschlags verurteilt.

Fünf Jahre später, er hatte gerade Ausgang, machte er sich erneut davon. Er lebte von Einbrüchen, bei einem fiel ihm eine Pistole in die Hände. Damit bewaffnet, wollte er nachts in eine Kneipe einbrechen, als Blaulicht durch die Scheiben blinkte. Frank floh, schoss auf Polizisten, hetzte weiter, entkam Sondereinsatzkommando wie Hundestaffeln und tauchte für Monate unter. „Auf der Flucht zu sein war schon fast der Normalzustand“, sagt er heute.

Erst beim nächsten versuchten Einbruch in eine Kneipe wurde er gefasst. Er wanderte wieder ins Gefängnis, für sechs Jahre, mit anschließender Sicherungsverwahrung. Zack – diese Tür sollte zu bleiben. Der einzige Ausweg: Sozialtherapie. „Ich will jetzt nicht sagen, dass das so was wie Gehirnwäsche war“, sagt Frank und lacht, wenn er zurückdenkt – die Therapie sollte doch nur Mittel zum Zweck sein, um aus dem Knast zu kommen, um weiterzumachen wie bisher. „Bis dahin hatte ich nie die Idee, ein geordnetes Leben zu führen. Ich wollte das ja alles genau so.“ Obwohl es ihm, dem einst hoffnungslosen Wiederholungstäter, nicht am moralischen Korrektiv mangelte. „Ich habe mich vom Staat, von der Justiz nie ungerecht behandelt gefühlt.“ Die Strafen empfand er als gerecht, aber sie verfehlten ihr Ziel.

Mit Therapie, Kunst und Sport: Prognose positiv

Erst in den stundenlangen Sitzungen im Justizvollzugskrankenhaus Hohenasperg entwickelte Frank Sieber ein Gespür dafür, dass er mehr vom Leben erwarten konnte. Dort setzte er sich zum ersten Mal mit seiner Kindheit auseinander, seinem Aufwachsen in einem behüteten Elternhaus – als ein freundlicher Jugendlicher, dem niemand eine solche kriminelle Karriere zugetraut hätte. Er dachte nach über den jungen Mann, der mit Anfang 20 recht spät, dafür aber umso ausdauernder straffällig wurde. Er sah sich als einen, der Gewalt nie bewusst gegen andere eingesetzt hatte. Einer, der aus einer ständigen Defensive heraus Gewalt als Mittel zum Zweck nutzte, wie psychiatrische Gutachter ihm bestätigten.

In der Therapie dachte Frank Sieber zum ersten Mal über Angst, Liebe, Freundschaft nach. Er musste in die Rolle seiner Opfer schlüpfen, über Verantwortlichkeit reden und sich mit den Folgen seiner Taten auseinandersetzen. Er begann zu malen, kopierte Werke der klassischen Moderne. Seine Bilder hängen heute bei seinen Eltern im Wohnzimmer. Er entdeckte den Sport für sich. Er änderte sich.

„Immer wieder gelingt es, dass Klienten mit einer ähnlich gravierenden Biografie in der Bewährungszeit oder während der Führungsaufsicht ihr Leben grundlegend ändern“, sagt die Bewährungshelferin Marianne Matheis. Und so erkämpft Sieber sich mit der gleichen Geradlinigkeit, mit der er sich früher nicht von der schiefen Bahn abbringen ließ, sein Stück Normalität. Bei mehr als 30 Zeitarbeitsfirmen stand er in der Kartei, bis er endlich unbefristet angestellt wurde. „Sein Leben ist stabil. Ich glaube, dass er es schafft“, sagt Matheis. Sie setzt sich dafür ein, dass seine auf fünf Jahre angelegte Führungsaufsicht verkürzt wird. Prognose: positiv.