Lange dachte man, es ist nur noch eine Frage der Zeit, bis Gleichberechtigung von Frauen und Männern herrscht. Es kam anders. Viele sehen heute Frauenrechte weltweit so bedroht wie lange nicht mehr. Ob auch im Westen ein Rückschritt droht, erklärt die Soziologin Alexandra Scheele.

Psychologie und Partnerschaft: Eva-Maria Manz (ema)

 

Neue Abtreibungsgesetze in den USA, Ungarn und Polen, kaum Rechte für Frauen im Iran oder in Afghanistan – viele Errungenschaften der Frauenbewegung scheinen in Gefahr. Alexandra Scheele lehnt es dennoch ab, von sogenannten Backlashes, also generellen reaktionären Bestrebungen, zu sprechen.

Frau Scheele, seit einiger Zeit hat man den Eindruck, es gibt in vielen Ländern einen Rückschritt in der Gleichberechtigung der Geschlechter, stimmt das?

Ja, aber es ist etwas komplexer. Mittlerweile haben die meisten Staaten die vor fast 45 Jahren verabschiedete Frauenrechtskonvention CEDAW ratifiziert, und man dachte lange, jetzt ist es nur noch eine Frage der Zeit, bis volle Gleichberechtigung überall auf der Welt herrscht. Aber es kam anders. Jetzt kann man tatsächlich Rückschritte erkennen. Trotzdem würde ich nicht von einem Backlash sprechen.

Wieso?

Weil wir eben nicht nur die Einschränkungen von Frauen- und Geschlechterrechten sehen, sondern auch ihre Ausweitung. Spanien hat jetzt umfassende Gesetze für Frauen und Transpersonen verabschiedet. So werden Menstruationsbeschwerden als Krankheitsgrund berücksichtigt, und vor zwei Jahren wurden neue Elternzeitregelungen für Väter eingeführt. In Deutschland gibt es die Anerkennung von Intersexualität. Alles Fortschritte. Zugleich erlebt man weltweit Anfechtungen von Frauen- und Geschlechterrechten. Eine interessante Frage ist, wieso jetzt gerade das Geschlecht das ist, was anscheinend so stark polarisiert.

Alexandra Scheele Foto: privat

Haben Sie Antworten?

Es gibt vielerorts den Versuch, die sexuellen Rechte, die Geschlechterrechte einzuschränken. Das kommt oft von Akteuren und Akteurinnen mit einer sehr konservativen Vorstellung, meist rechtspopulistischen Parteien, deren Markenkern darin besteht, etwas bewahren zu wollen. Sie haben eine klare Vorstellung davon, wie eine richtige Familie aussieht, was ein richtiger Nationalstaat ist und wie Arbeitsteilung funktioniert.

Warum fechten diese Parteien die Gleichstellungsrechte an?

Ansprüche auf Freiheiten oder sexuelle Selbstbestimmung nehmen sie als Bedrohung traditioneller Werte wahr. Das ist etwas, was wir in Deutschland an der AfD sehen. Ähnlich bei Viktor Orbán in Ungarn, der in Jugendbüchern die Abbildung geschlechtlicher Vielfalt untersagt. Da geht es letztlich darum, Homosexualität zu verbieten. Es stellt sich die Frage: warum eigentlich? Was ist da die Gefahr für euch?

Interessant ist, dass solchen Parteien oft Frauen vorstehen, wie in Italien Giorgia Meloni, Marine Le Pen in Frankreich oder hier bei der AfD Alice Weidel.

Das sehe ich nicht im Widerspruch, denn Frau zu sein allein reicht nicht. Es geht ja um den konservativen Markenkern. Der besteht im Erhalt einer patriarchalen, autoritären Struktur. Das ist wie in der katholischen Kirche. Sie vertraut nicht darauf, dass der christliche Glaube so groß ist, dass die Institution weiter besteht, sondern glaubt, wenn sie eine neue Auslegung der Schrift macht, sexuelle Rechte gewährt und Abtreibung erlaubt, ist sie in ihrem Kern so sehr angegriffen, dass sie noch mehr an den Rand gedrängt wird, als sie es ohnehin schon ist.

Frau zu sein allein reicht nicht – was bedeutet das für Sie?

Für eine Politik der Gleichberechtigung braucht es die Überzeugung, bessere Lebensbedingungen für alle schaffen zu wollen. Eben nicht diesem Freund-Feind-Schema anzuhängen. Wenn eine Frau in Italien an der Regierung ist und das Ziel hat, nur für eine bestimmte Gruppe bessere Lebensbedingungen herzustellen und gegen andere hetzt, kann das keine gute Politik sein.

Sehen Sie solche Entwicklungen als vorübergehende Erscheinungen?

Im Grunde ja, man sieht ja auch, dass es überall gegen die Einschränkung der Frauenrechte sehr viel Widerstand gibt. Auch in Ungarn oder in den USA. Dieser Widerstand kann etwas bewirken. Besorgniserregend ist aber, dass sich die Gegner der Gleichstellungsrechte immer stärker vernetzen, und zwar weltweit.

Wie denn?

Solche Netzwerke haben teilweise ganz harmlos klingende Namen wie der „Weltkongress der Familie“. Aber wenn man genauer hinguckt, sind diese Leute gegen sehr vieles, gegen die Emanzipation von Frauen etwa. Untersuchungen dieser Netzwerke zeigen, das sind viele kirchliche und rechte Akteure. Diese Kräfte sind Spiegelbild eines Unbehagens, deswegen sind sie so stark geworden.

Welches Unbehagens?

Es gibt Studien, die belegen, dass sich viele Menschen verunsichert fühlen. Aktuell vom Krieg in der Ukraine, aber auch schon vorher: von der Globalisierung, von ökonomischer Unsicherheit seit der Finanzkrise 2008. Das wirft die Frage auf: Was ist eigentlich meine Identität? Wo ist mein Platz in der Gesellschaft? Leider führt das bei vielen zu einer Haltung: wir hier – da die anderen. Die Angst ist, dass sich mein Leben dadurch verschlechtert, dass andere da sind, zum Beispiel die Geflüchteten, die Homosexuellen. Viele Parteien greifen das auf, konstruieren Feindbilder. Dabei wird in Wahrheit ja niemandem was weggenommen. Es ist eher eine Öffnung neuer Räume.

Wo ist die Situation weltweit für Frauen besonders schwierig?

Problematisch ist es immer dort, wo mit Religion Politik gemacht wird, das sehen wir im Iran, in Afghanistan, aber auch in Pakistan oder Indien und in einigen afrikanischen Ländern. Trotzdem, und das wird oft vergessen, gibt es auch dort Widerstände. Weltweit kämpfen Frauen um Selbstbestimmung. Da gibt es immer wieder Fortschritte hin zu mehr Gleichberechtigung. Und zugleich eben diese teils brutale Abwehr, die Unterdrückung und den Versuch, Frauen klein zu halten.

Auch im Westen gibt es weiter Ungleichheiten, zum Beispiel verdienen Frauen nach wie vor schlechter als Männer.

Ja, Frauen werden für ihre Arbeit oft schlecht oder gar nicht bezahlt, das betrifft weltweit übrigens besonders Frauen mit Migrationserfahrung. Der ganze Care-Bereich ist in den kapitalistischen Gesellschaften nicht gut gelöst. Die Situation von Frauen und non-binären Personen ist immer auch abhängig von Herkunft, Staatsbürgerschaft, Gesundheit, Alter, religiöser Zugehörigkeit, sexueller Orientierung. Der Anspruch des Feminismus muss sein, das im Blick zu haben und auch dafür zu kämpfen, dass eine Frau, die ein Kopftuch trägt, die gleichen Rechte hat.

Wie gelingt das derzeit in Deutschland?

Die Frauenbewegung ist internationaler geworden. Das ist wichtig, obwohl wir genauso in Deutschland noch Schwierigkeiten haben. Wenn man sich die Daten nicht nur zu häuslicher Gewalt anschaut, sieht man, wir haben hier ein großes Problem mit Gewalt gegen Frauen und Transpersonen.

Zur Person und zur Forschung

Wissenschaftlerin
PD Dr. Alexandra Scheele lehrt und forscht im Bereich Arbeits- und Wirtschaftssoziologie an der Fakultät für Soziologie der Universität Bielefeld. Ihre aktuellen Forschungsschwerpunkte sind Geschlechterungleichheiten in der Arbeitswelt, Gender Pay Gap, Care-Arbeit und Digitalisierung von Arbeit. Aktuell forscht sie im Rahmen eines von der Volkswagen-Stiftung geförderten Projekts zur „Care-Krise in der Corona-Krise“ zu „systemrelevanten Berufsgruppen“ im Krankenhaus und im Einzelhandel.

Forschungsgruppe
Von 2020-2021 hat Scheele gemeinsam mit Julia Roth und Heidemarie Winkel die internationale Forschungsgruppe „Global Contestations of Women’s and Gender Rights“ am Zentrum für Interdisziplinäre Forschung (ZiF) geleitet. In diesem Rahmen haben sich 20 Wissenschaftler/innen unter anderem Kolumbien, Südafrika, Pakistan, Marokko, Brasilien, Nigeria, Ungarn, Österreich, Großbritannien, Deutschland und den USA mit den strukturellen, institutionellen und sozio-kulturellen Ursachen der weltweiten Anfechtungen von Geschlechterrechten auseinandergesetzt. In diesem Kontext ist das Buch

Global Contestations of Gender Rights” erschienen und der zehnteilige Podcast „Whose Rights, Which Rights?”.