Der Verkauf von Wittwer an Thalia ist ein Fanal: Stuttgart muss für seine Einzigartigkeit streiten – doch dafür braucht es auch einzigartige Produkte und einzigartige Läden, meint Lokalchef Holger Gayer.

Chefredaktion : Holger Gayer (hog)

Stuttgart - Die gute Nachricht vorweg: Wittwer bleibt. Der Buchhändler mit der Tradition aus 151 Jahren schließt nicht für immer, wie manch aufgeregter Kunde argwöhnte, als er hörte, dass der Stuttgarter Bücher-Platzhirsch und Thalia verschmelzen. Wittwer hinterlässt auch keine Brache an der Königstraße: Die Marke, die in Stuttgart ähnlich bekannt ist wie der VfB, Mercedes oder Bosch, wird weiter bestehen. Und, keine Frage: Solange im Stammhaus im Herzen der Stadt Bücher verkauft werden, werden die Stuttgarter sagen, dass sie zum Wittwer gehen, nicht zu Thalia. Ein kollektives Gefühl lässt sich nicht einfach verscherbeln.

 

Aber gerade deshalb ist der Verkauf des alteingesessenen Traditionsbetriebs an das „Omni-Channel-Unternehmen“ (Thalia über Thalia) eben doch ein Fanal: Trotz der Hochzeit und des künftigen Doppelnamens Wittwer-Thalia büßt Stuttgart in Wahrheit ein weiteres Stück Originalität ein. Denn selbst wenn auf der Fassade des markanten Betonbaus nach wie vor Wittwer steht, dürfte sich das Geschäft im Innern immer mehr den 300 Filialen angleichen, die Thalia in Deutschland, Österreich und der Schweiz führt. Das ist betriebswirtschaftlich logisch und auch nicht verwerflich: Das Geschäftsmodell des Filialsystems ist die Uniformität. Und die ist nun mal das Gegenteil von Einzigartigkeit.

Bücher sind wie Klopapier: überall identisch

Darob aber zu beklagen, dass die Stadt allmählich aussieht wie ein Sonderangebot aus dem Katalog für Vermarkter von artifiziellen Einkaufsmeilen, ist wohlfeil. Die Entwicklung, die Stuttgart nimmt, folgt einem Trend, der sich in allen Großstädten der Republik breitmacht. Dieser Trend hat mit den Kunden zu tun, die ihre Bedürfnisse immer mehr im Online-Handel befriedigen statt beim Händler um die Ecke. Bücher unterliegen da einem ähnlichen Problem wie Bleistifte, Brotaufstriche und Toilettenpapier: Die Produkte sind zwischen Flensburg und Garmisch identisch; es macht für den Verbraucher keinen Unterschied, wo er sie kauft.

Anders sieht es nur bei Luxuswaren und wirklich Exklusivem aus: Wenn etwas einzigartig ist, schätzen die Kunden das persönliche Erlebnis, die Beratung, das Probieren. Dann sind sie bereit, Wege in Kauf zu nehmen. Selbiges gilt auch, wenn die Lebens- und Aufenthaltsqualität stimmt. Wenn Stuttgart also wieder einzigartig werden will, dann müssen die Stadt, ihre Händler und Gastronomen genau an dieser Stelle ansetzen. Von Bordeaux bis Bozen: Viele Städte in Frankreich und Italien sind gerade deswegen so bunt, weil sie Läden, Bars und Kneipen haben, die keine Allerweltswaren anbieten, sondern Produkte und eine Atmosphäre, die es nur dort gibt.