In der Region Stuttgart blüht das Sexgewerbe. Die meisten Prostituierten stammen aus Osteuropa. So auch die 15-jährige Mirella B., die in vier Bordellen der Region Stuttgart zum Kauf angeboten worden ist. Vor dem Landgericht fand nun der Prozess gegen ihren Zuhälter statt.

Reportage: Frank Buchmeier (buc)

Stuttgart - Der Angeklagte wird in Handschellen gefesselt in Saal 9 geführt und vor der weißen Rauputzwand platziert. Gheorghe P., 35, ist athletisch gebaut und trägt eine dieser angesagten Frisuren, bei der nur die Behaarung der unteren Kopfhälfte kurz geschnitten ist. Der rumänische Staatsangehörige steht wegen schweren Menschenhandels, Zuhälterei und Urkundenfälschung vor dem Stuttgarter Landgericht.

 

In der Region floriert das Sexgewerbe. Die Gegend zwischen Alb und Remstal ist ein Traumziel für Freier aus dem Westen und Schlepper aus dem Osten. In mehreren Tausend Quadratmeter großen Bordellen tummeln sich einträchtig Schwaben, Türken, Schweizer, Franzosen, Russen, Amerikaner und manchmal auch Araber. Der Nachschub an blutjungen Dirnen – im Kundenjargon „Frischfleisch“ genannt – ist seit der Erweiterung der Europäischen Union quasi unbegrenzt. Der Fall Gheorghe P. lässt erahnen, warum diese Frauen ihre Körper verkaufen.

Das Gefälle zwischen dem bitterarmen Nordosten Rumäniens und dem wohlhabenden Südwesten Deutschlands macht es Gheorghe P. leicht, Mirella B. zu ködern. Das Mädchen ist gerade einmal 15, als es dem doppelt so alten Mann aus dem Moldau-Dorf Dornesti in die Große Kreisstadt Sindelfingen folgt. Statt des versprochenen Jobs in einer Gaststätte erhält Mirella von Gheorghe P. bei der Ankunft eine kräftige Ohrfeige und einen falschen Pass, der sie als 20-Jährige ausweist. Während des Frühsommers 2010 wird der Teenager im Stettener Laufhaus, im Waiblinger Eros-House 23, im Böblinger FKK-Club Sakura und in der Reutlinger Eros-Arena zum sexuellen Gebrauch angeboten.

Ein 24-Stunden-Arbeitstag

Geschlechtsverkehr mit der Minderjährigen kostet 30 Euro. Mirella übernachtet in den Bordellen, an einem 24-Stunden-Arbeitstag bedient sie bis zu 20 Männer. Einen Teil ihres Lohnes muss sie an die Betreiber abtreten: FKK-Clubs verlangen von den Prostituierten circa 70 Euro Eintritt, Laufhäuser etwa 130 Euro Zimmermiete pro Tag – jeweils plus 25 Euro Steuerpauschale. Den Rest kassiert Gheorghe P., der das Mädchen meistens zum jeweiligen Einsatzort fährt und es dort auch abholt. So lautet die Anklage.

Der mutmaßliche Menschenhändler Gheorghe P. spricht kein Deutsch, ein Dolmetscher muss jedes Wort für ihn übersetzen, das im Gerichtssaal gesprochen wird. Sein Verteidiger verliest eine Erklärung: Gheorghe P. ist in Rumänien nur drei Jahre zur Schule gegangen, er hat keine Ausbildung, sein Vater starb früh. 2002 fuhr er mit dem Bus nach Spanien. In Almeria lernte er, zunächst als Kunde, die Prostituierte Daniela G. kennen. Es entwickelte sich eine Liebesbeziehung. Anfang 2010 zog das Paar nach Sindelfingen, weil es gehört hatte, dass sich in schwäbischen Bordellen mehr Geld verdienen lässt als auf dem Straßenstrich von Almeria. Im krisengeplagten Spanien zahlen die Freier nur zehn Euro für eine schnelle Nummer, in der wohlhabenden Region Stuttgart ist der Preisverfall für sexuelle Dienstleistungen noch nicht so weit fortgeschritten.

Gheorghe P. und Daniela G. kommen bei rumänischen Landsleuten in einer Wohnung neben dem Mercedes-Werk unter. Er treibt sich mit Freunden in Cafés und Spielhallen herum, sie verdient in einem Puff am Flughafen den Lebensunterhalt. Will sie auch mal freimachen, rastet er aus. Daniela G. soll gefälligst noch mehr Geld heranschaffen. Sonst setzt’s was.

Moderner Sklavenhandel

Die Belastungszeugin wird in Saal 9 gerufen. Es erscheint eine Enddreißigerin – schwarzer Zopf, falsche Wimpern, lackierte Fingernägel. Daniela G. wurde im Juli 2011 wegen Beihilfe zum Menschenhandel verurteilt. Nun soll sie gegen ihren Ex-Freund aussagen, den mutmaßlichen Haupttäter Gheorghe P., der seinerzeit mit einem internationalen Haftbefehl gesucht wurde. Der Angeklagte fixiert sie mit einem düsteren Blick und zischt ihr ein paar unfreundliche Wörter zu. Daniela G. berichtet mit leiser Stimme:

Anfang 2010 fährt Gheorghe P. von Sindelfingen in sein Heimatdorf Dornesti. Als er zurückkommt, hat er ein Mädchen dabei – Mirella B. Die erfahrene Hure Daniela G. bekommt von ihrem Freund und Zuhälter den Auftrag, die 15-Jährige einzuarbeiten. Mirella wird in Reizwäsche gesteckt und ins Laufhaus nach Stetten gekarrt. In dem Bordell, das mit seiner verkehrsgünstigen Lage wirbt („Direkt an der A 8 und der B 27“), bringt ihr Daniela G. den ersten Kunden aufs Zimmer. Sprechen darf sie mit dem Mädchen nicht. So hat es Gheorghe P. verfügt.

„Warum haben Sie alles getan, was Ihnen der Angeklagte befahl? Er ist doch nicht Gott“, fragt Ute Baisch, Vorsitzende Richterin der 5. Großen Strafkammer am Stuttgarter Landgericht. „Hatten Sie Angst vor ihm?“ – „Ja“, flüstert Daniela G.

Zu Besuch im Fraueninformationszentrum

Ein paar Gehminuten vom Landgericht entfernt ist in einem blassrosa gestrichenen Gebäude das Fraueninformationszentrum untergebracht. Die evangelische Theologin Doris Köhncke leitet es. Zu ihrer Klientel zählen Frauen, die – wie es im Strafrecht heißt – „der Prostitution zugeführt wurden“. Im vergangenen Jahr war Doris Köhncke mit 33 Fällen von sexueller Ausbeutung konfrontiert. „Das ist ein kriminelles Geschäft, mit dem sich viel Geld verdienen lässt“, sagt sie.

Das Prostitutionsgesetz von 2001 sollte das älteste Gewerbe der Welt aus der Grauzone herausholen – zumindest in Deutschland. Wenn dieses Marktsegment nicht mehr grundsätzlich „sittenwidrig“ sei, so die Überlegung der damaligen rot-grünen Bundesregierung, würde die Position der Sexarbeiterinnen gestärkt. In der Realität blieben viele Huren eine Handelsware und den Zuhältern schutzlos ausgeliefert. Rot-Schwarz will das Gesetz nun verschärfen. In der Diskussion sind stärkere Kontrollen von Bordellen, eine Kondompflicht für Freier und eine Anhebung des Mindestalters für Prostituierte von 18 auf 21 Jahre. Am weitesten geht die Forderung einzelner Vertreterinnen von SPD und CDU, dem schwedischen Modell zu folgen: käuflichen Sex verbieten, die Kunden kriminalisieren.

Im Fraueninformationszentrum steht die Polizei vor der Tür. Beamte vom Fachdienst Prostitution liefern eine junge Bulgarin ab, die vor wenigen Stunden ihren Zuhältern entkommen konnte. Sie will so schnell wie möglich zurück in die Heimat. „Jetzt machen wir Ihnen erst einmal einen Kaffee“, sagt Doris Köhncke. Die Bulgarin fasst schnell Vertrauen und erzählt eine jener Horrorgeschichten, wie sie sich mitten im Rechtsstaat Deutschland täglich abspielen: Mit falschen Versprechungen wurde sie von Schleppern nach Stuttgart gelockt. Die Männer wollten sie in ein Bordell schicken. Als sie sich weigerte, wurden ihr Zigarettenkippen auf dem Arm ausgedrückt. Die Brandwunden sind frisch.

Auftritt der Bordellbetreiberin

Wie kann man diese moderne Sklaverei unterbinden, Frau Köhncke? „Vielleicht müsste man die Bordellbetreiber haftbar machen, denn sie sind Mitwisser und Profiteure dieser Machenschaften“, antwortet die Sozialarbeiterin.

„Die Zeugin W. bitte in Saal 9!“ Eine Blondine – weiße Hose, Designer-Handtasche, mit Strass verzierte Sandalen – eilt herein. „Wie lange wird das hier dauern? Ich muss um 12 meine Tochter von der Schule abholen.“ – „Das schaffen Sie schon. Vielleicht verraten Sie dem Gericht erst einmal Ihre Personalien.“

Anja W. ist 48 Jahre alt, verheiratet und Mitinhaberin des FKK-Clubs Sakura in Böblingen. „Was ist das für ein Etablissement, Frau W.?“, fragt Ute Baisch. Die Zeugin klärt die Richterin darüber auf, dass es im Sakura gegen 70 Euro Eintritt ein Büfett und alkoholfreie Getränke gebe. Es seien immer 15 bis 40 Prostituierte anwesend, die mit den Freiern die Preise für ihre Dienste selbstständig aushandelten.

Skrupellose Freier

Das Internet gewährt verstörende Einblicke in dieses Milieu. Im „Huren-Test-Forum“ berichtet ein Sakura-Besucher namens „Carguy“, wie er mit der jungen Rumänin Rayah „eine härtere Nummer durch drei Stellungen“ hatte und bei diesem intimen Akt von anderen Pufffreunden beobachtet wurde. Ob es Männer wie „Carguy“ stört, dass ihre gekauften Lustobjekte Opfer von Menschenhandel sein könnten? Kennen sie Skrupel?

Nach einem anonymen Hinweis fliegt am 12. Juni 2010 gegen 18.30 Uhr auf, dass im Böblinger Sakura eine Minderjährige anschafft. Die Betreiberinnen des FKK-Clubs können sich vor der Polizei damit herausreden, dass sie den gefälschten Ausweis von Mirella B. für echt gehalten und nicht geahnt hätten, dass sie von einem Mann ausgebeutet wird.

In Vernehmungen schildert das Mädchen, wie sie als Zwölfjährige in Rumänien vergewaltigt wurde, wie sie mit 14 erstmals Sex gegen Geld hatte und wie sie kurz vor ihrem 15. Geburtstag ihren vermeintlichen Retter Gheorghe P. in einem Café kennenlernte. Er versprach Mirella den Himmel und schickte sie in die Hölle. Gheorghe P. gaukelte ihr vor, dass er sie liebe, dass er für sie sorgen und ihr einen Job in der Gastronomie vermitteln werde. Sie folgte ihm nach Sindelfingen. Dort begann ihr Martyrium. Gheorghe P. nahm Mirella ihren Pass ab. Ohne Ausweis und ohne Geld stand sie da, in einem Land, dessen Sprache sie nicht verstand. Gheorghe P. brachte sie in die Bordelle und schlug sie, wenn sie dort seiner Ansicht nach nicht genügend verdiente. Er drohte ihr, sie umzubringen, wenn sie nicht das tue, was er ihr sage. Innerhalb von sechs Wochen vergingen sich Hunderte Männer an der Minderjährigen.

Feiste Typen mit Goldketten

Daniela G., die Mirella die ersten Freier zugeführt hatte, wurde Anfang 2011 gefasst und ein halbes Jahr später vom Amtsgericht Böblingen zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Gheorghe P. war zu dieser Zeit in Portugal untergetaucht. Vor dem Landgericht gesteht Daniela G. nun, dass sie ihm bis zu seiner Verhaftung im Januar 2013 regelmäßig Geld geschickt habe, obwohl sie nicht mehr liiert waren. Auch hierfür nennt sie als Motiv: Angst.

Daniela G. ist jetzt 38 und verdient ihren Lebensunterhalt noch immer in den Großbordellen der Region Stuttgart. Auch ihre Tochter prostituiert sich hier seit einiger Zeit. Ob die beiden Frauen den Lohn ihrer Arbeit mittlerweile für sich behalten können oder sich andere an ihnen bereichern, kommt in dem Prozess nicht zur Sprache.

Stattdessen treten weitere osteuropäische Prostituierte auf und Männer, die von ihnen profitieren. Es sind feiste Typen, die noch nie etwas gearbeitet haben, aber Goldketten tragen und BMW fahren. Als die Richterin einen dieser Zeugen fragt, ob er kein schlechtes Gewissen habe, auf Kosten einer Frau zu leben, antwortet er: „Ich nehme ihr ja nicht das ganze Geld weg.“

Das Urteil gegen den Menschenhändler

Mirella B., das Opfer sexueller Ausbeutung, erscheint nicht zu der Verhandlung. Dass sie vor vier Jahren ausgesagt hat, ist ohnehin erstaunlich. Meistens schweigen die Betroffenen. Aus Furcht, dass sie sich für ihr Tun öffentlich rechtfertigen müssen. Aus Scham, vor allem aber, weil ihnen ein Strafverfahren gegen ihre Peiniger nichts bringt – außer Stress.

Nachdem sie sich einer Hauptkommissarin offenbart hatte, wurde Mirella B. im Juni 2010 in einer Böblinger Mädchenwohngruppe untergebracht. Wenige Tage später versuchte sie sich das Leben zu nehmen: Sie schnitt sich die Pulsader auf. Die folgenden Wochen verbrachte Mirella B. in einer psychiatrischen Klinik im Schwarzwald. Mitte August wurde das Mädchen in ein Flugzeug nach Bukarest gesetzt, wo sie Mitarbeiter eines Kinderhilfsvereins erwarteten. Mittlerweile sei die junge Frau verheiratet, habe ein Kind und wolle mit der Vergangenheit nicht mehr konfrontiert werden, berichtet ihre Anwältin.

Nach vier Verhandlungstagen wird Gheorghe P. vom Landgericht Stuttgart zu einer Haftstrafe von dreieinhalb Jahren verurteilt. An der allgemeinen Lage ändert dieser einzelne Prozess nichts. Wer für Sex bezahlt, unterstützt ein menschenverachtendes System.