Zwei Nawalny-Aktivisten im schwäbischen Exil Der Preis des Protests

Auf seinem Pulli steht „Team Nawalny“. Sergej Oskolkov lebt jetzt in Dettenhausen. Foto: Wolfgang Albers

Julia Morozov und Sergej Oskolkov führten ein russisches Durchschnitts-Leben, bis sie sich der Oppositionsbewegung um den inzwischen gestorbenen Alexei Nawalny anschlossen. Jetzt leben beide im schwäbischen Exil – und weiterhin im Widerstand.

Man verliert viel, wenn man sich gegen Putin engagiert. Schnell die Freiheit, oft das Leben. Wie Alexej Nawalny. Oder man verliert seine Heimat. Wie Julia Morozov und Sergej Oskolkov, beide aus der Nawalny-Bewegung und jetzt hier im politischen Exil. Aber man verliert nicht unbedingt die Entschlossenheit, sich weiter gegen Putin zu engagieren.

 

Wer sich mit der 56-jährigen Julia Morozov und dem 31-jährigen Sergej Oskolkov unterhält und sich deren Schilderungen anhört, lernt viel über das Wesen einer Diktatur: Wie sie Menschen, die nur ihr normales Leben leben wollen, immer mehr bedrängt und schließlich aus der Bahn wirft.

Julia Morozov ist in Rostow, der Millionenstadt am Don, geboren. Dort hat sie immer gelebt. Sport war ihr Ding, am liebsten Hochsprung. Da liegt ihr Rekord bei 1,75 Meter, deutlich über ihrer Körpergröße von 1,64 Meter. Sie hat Sport studiert und dann als Dozentin an der Hochschule gearbeitet.

Sergej Oskolkov ist in Tjumen aufgewachsen, auch fast eine Millionenstadt in Westsibirien. Dort ging er nach der Schule auf eine Ausbildungsstätte für die Öl- und Gasförderung, wechselte dann zu einer Elektriker-Ausbildung und fand in dieser Phase der beruflichen Orientierung schließlich die Hochschule für Landwirtschaft, wo er in der Sparte Holzverarbeitung war.

Post von der Rekrutierungsstelle

In dieser Zeit, Ende des Jahres 2011, sah er auch eine Demonstration in Tjumen. Sie gehörte, angeführt von Alexej Nawalny, zur bis dato größten Protestwelle in Russland gegen Fälschungen bei den Parlamentswahlen. Sergej Oskolkov kam zufällig vorbei und fragte einen Polizisten, was los sei. „Das ist eine verbotene Versammlung“, sagte dieser. Sergej Oskolkov machte sich keine großen Gedanken darüber: „Damals war ich noch nicht so politisch interessiert.“

Vorerst dominierte das Private. Sein Vater erlitt einen Schlaganfall, Sergej Oskolkov kümmerte sich um ihn. Im Jahr 2014 wollte die Armee ihn einziehen. Da pflegende Angehörige sich dem Waffendienst entziehen konnten, bekam er sechs Monate Aufschub.

Sofort danach meldete sich die Rekrutierungsstelle erneut. Oskolkov verwies wieder auf seinen Vater. Die Armee wollte das nun nicht mehr akzeptieren. Also wandte er sich an ein Gericht. Das wies ihn ab. Oskolkov ging in die nächste Instanz, das Gericht wies ihn wieder ab, er ging erneut in Berufung. So zog sich die Sache über drei Jahre. Russland war schon im Würgegriff Putins, aber noch funktionierten einige Institutionen und Abläufe so, wie es die Verfassung vorsieht. Heute, sagt Oskolkov, greifen sich die Rekrutierer Leute einfach von der Straße weg.

Julia Morozov war inzwischen 30 Jahre in ihrem Job als Sportlehrerin. Viel Routine, wenig Neues. Vielleicht auch deshalb war sie empfänglich für neue Perspektiven – wie sie sich auftaten, als sie Leute aus dem sogenannten Regionalstab in Rostow kennenlernte. Mit dieser Organisationsform verankerte Alexei Nawalny seine Oppositionsarbeit im ganzen Land. „Es waren junge Leute, sie hatten eine offene Weltanschauung, ich fand sie sympathisch“, sagt Julia Morozov. Sie spendete Geld und machte bald selber bei Aktionen mit. Etwa als Beobachterin, bei Kommunal- oder Gouverneurswahlen.

„Das war noch möglich, man wurde noch nicht wirklich verfolgt“, sagt sie. Aber gern gesehen war sie auch nicht. Der Leiter eines Wahllokales versuchte, sie rauszuekeln, rief sogar die Polizei. Das bestärkte Morozov nur noch mehr. Zumal der Sinn ihrer Arbeit offenkundig war: In dem Lokal, wo sie aufpasste, erhielt der Putin-Kandidat 30 Prozent der Stimmen. In unbeobachteten Wahllokalen waren es 70 Prozent. „Auch von den kleinen Menschen hängt etwas ab,“ merkte sie.

Das kann Sergej Oskolkov bestätigen. Auch er stand in einem Wahllokal, zählte Wähler und habe so verhindern können, dass der Wahlleiter dem Putin-Kandidaten 150 Phantomstimmen zuschanzte.

Der Schritt zur Nawalny-Bewegung

In seinem jahrelangen Streit mit den Rekrutierungs-Ämtern hatte Oskolkov gemerkt, dass die Behörden immer weniger auf die Gesetze achten. „Da machte es bei mir Klick im Kopf. In diesem System geht es nur darum, dass Putin seine Interessen durchsetzt, nicht um die Bedürfnisse der einfachen Leute.“ 2018 war das, und Sergej Oskolkov begann, sich für Politik zu interessieren: „Ich habe gemerkt, da gibt es auch diese Nawalny-Leute.“ Er meldete sich zur Mitarbeit.

So ein Schritt bleibt nicht folgenlos. Er bedeutet einen Bruch im Privatleben. Julia Mozorovs Freunde blieben zwar an ihrer Seite, aber der Konflikt der Generationen traf sie voll. Verwandte und Eltern antworteten bei Diskussionen immer mit Sätzen aus dem Staatsfernsehen. „Sie waren infiltriert“, sagt Julia Mozorov. Bis heute hat sie den letzten Satz ihres Vaters an sie, einen Tag vor seinem Tod, nicht verwunden: „Schalt den Fernseher ein.“ Die Eltern einer Mitstreiterin sagten einmal: „Ihr seid Verräter.“

Ähnliches hörte Sergej Oskolkov eher aus seinem Freundeskreis, den er verlor. Seine Eltern dagegen hielten zu ihm – wofür er einen simplen Grund sieht: „Unser Fernseher ist im Jahr 2014 kaputt gegangen, und wir haben uns keinen mehr angeschafft.“

Zu den Konflikten im privaten Umkreis kamen bald jene mit der Staatsmacht. Das Putin-Regime bekämpfte die Nawalny-Bewegung immer rigoroser. Nach Demonstrationen kam Julia Morozov in Haft. Erst sieben Tage. Das zweite Mal zehn Tage.

Damit war sie auf der schwarzen Liste, wie sie merkte. Die Hochschule zitierte sie herbei: Sie solle ihre Kündigung einreichen. Inzwischen hatte der Krieg gegen die Ukraine begonnen, der für Julia Morozov besonders existenziell war. Ihre Schwester lebte samt Sohn in Kiew: „Ich hatte wahnsinnige Angst, dass mein Neffe in den Kämpfen ums Leben kommt.“ Sie ging zu den Protesten gegen den Krieg, die in den ersten Tagen entflammten. Vor ihrer Haustüre wurde sie verhaftet. Wegen „Störung der öffentlichen Ordnung“, wie ihr die Polizisten sagten.

Im Gefängnis hielt man ihr ein weiteres Vergehen vor: Sie habe den höchsten Mann im Land diskreditiert, weil sie auf Facebook den Post eines britischen Parlamentariers geteilt hatte, der Putin als Mafioso bezeichnete. Julia Morozov kam noch einmal aus der U-Haft frei. Aber sie wusste: Von jetzt an droht ihr langjährige Haft. „Ich sah, wie sich das entwickelt. Ich wollte nur noch weg.“

Sergej Oskolkov war bald ein intensiver Mitarbeiter in der Tjumener Nawalny-Zentrale. Zunächst als Freiwilliger, der Kundgebungen mitorganisierte und Wahlen beobachtete. Im Januar 2019 wurde er dann fester Mitarbeiter. Er arbeitete als Video-Editor, koordinierte Kundgebungen oder Ermittlungen, reiste zu den Zentralen in anderen Städten. Bei einem Treffen in Moskau begegnete er Alexei Nawalny persönlich: „Er hat einen großen Eindruck auf mich gemacht.“

Sein Idol wird abgeführt

Eine Taktik bei Wahlen war besonders erfolgreich: die sogenannte intelligente Wahl, bei der es darum ging, die Stimmen immer auf einen Gegenkandidaten der Putin-Partei zu bündeln. Dass das ein geschickter Schachzug Nawalnys war, verstand auch Putin. Im September 2019 rückten in 200 Orten die Rollkommandos in den Nawalny-Büros und Wohnungen der Mitarbeiter an.

Es war acht Uhr am Morgen, Sergej Oskolkov schlief noch, da dröhnten Schläge gegen die Tür. Sieben Uniformierte stürmten herein und nahmen die Wohnung auseinander, so erzählt er. Sie nahmen ihm den Computer weg, Bankkarten, sein Telefon. Als er mit den Polizisten die Wohnung verlassen sollte, setzte er sich auf den Boden und blieb stur: „Ohne Anwalt gehe ich nicht mit.“ Schließlich ließen sie einen Anwalt in die Wohnung und zogen nach vier Stunden wieder ab.

Im Januar 2021 waren er und Julia Morozov in einer riesigen Menschenmenge vereint: Sie warteten vor dem Flughafen auf die Rückkehr Nawalnys aus Deutschland. Die Polizei sperrte das Gebäude. Julia Morozov blieb bei minus 20 Grad draußen, Sergej Oskolkov trickste sich hinein. So sah er noch, wie sein Idol abgeführt wurde.

Zurück in Tjumen erwischte es ihn selber. Er organisierte eine Solidaritätsdemo, da hielt ein Auto neben ihm, er wurde hineingezerrt. „Wer seid ihr!“, schrie er und drückte den Aufnahmebutton seines Handys. Eine Kollegin stellte die Datei später online.

Julia Morozov und die Straßenhündin Jessie haben in Tübingen ihren Fluchtpunkt gefunden Foto: Wolfgang Albers

Acht Tage war er in einer heruntergekommenen Zelle eingesperrt. Im April 2021 noch einmal für 25 Tage, wegen der Teilnahme an einer Nawalny-Demo. Im Juni 2021 wurde Nawalnys Netzwerk als extremistische Organisation eingestuft. Sergej Oskolkov drohten jetzt viele Jahre Haft. Zeit zu fliehen.

Das nahe liegendste Fluchtland ist Georgien. Für Julia Morozov war es gar nicht so einfach, dahin zu kommen. Flüge waren ausgebucht, und sie wollte eine Begleiterin aus ihrer Rostower Zeit mitnehmen: Jessie, eine Straßenhündin, die sie aufgenommen hatte. Über Umwege, per Zug nach Sotschi und einem Flug nach Armenien, klappte es doch. Auch Sergej Oskolkov kam mit viel Glück und der Hilfe von Freunden über die Grenze.

Georgien ist erst Freiheit, aber dann auch eine Sackgasse. Eine Weile zu überleben geht, weil Bekannte und Freunde helfen. Aber irgendwann geht das Geld aus. Der Weg zurück führt ins Straflager oder als Kanonenfutter an die Front. Den Weg nach vorne versperren Visa-Vorschriften des Westens.

Die deutsche Botschaft in Tiflis wird förmlich überrannt – und politisches Asyl so selten gewährt wie ein Visum aus humanitären Gründen. Etwa 2000 hat Deutschland bisher bewilligt (bei mehr als 100 000 aus Russland Geflohenen). Eine Schicksals-Lotterie mit schlechten Chancen, die für Julia Morozov und Sergej Oskolkov gut ausgeht.

Sie wohnt jetzt in Tübingen, er in Dettenhausen. Ohne Unterstützer hätten sie keine Wohnung bekommen. Jetzt lernen beide Deutsch und setzen viel Energie darauf, weiter in der Putin-Opposition tätig zu sein.

Schon in Georgien hat Julia Morozov an Demonstrationen teilgenommen – für die Unterstützung der Ukraine. Das macht sie auch in Tübingen, wo sie sich bei Hilfslieferungen in die Ukraine einbringt. Und wie Sergej Oskolkov, der dann in seinem Sweat-Shirt mit dem roten Banner „Team Nawalny“ unterwegs ist, versucht sie, den Westen zu mehr militärischer Hilfe zu bewegen.

Selbstverständlich ist das nicht. Der Krieg hat die Ukrainer und die Russen komplett entzweit. Aber für Julia Morozov ist klar: „Wenn sich die ganze zivilisierte Welt in diesem Kampf vereint, wird der Putinismus besiegt werden. Und dann werden wir in der Lage sein, ein neues, freies Land aufzubauen.“ Da will sie mitmachen: „Wenn ich das Leben in Deutschland annehme, würde ich alles dekonstruieren, was ich gemacht habe. Dazu bin ich noch nicht bereit.“

Sie träumt davon, nach Russland zurückzukehren, um dort freie Wahlen zu organisieren. Dafür wird sie weiterhin verfolgt. In ihrem E-Mailfach fanden sich schon Botschaften aus Russland: „Wir kommen nach Tübingen und machen dort ein zweites Mariupol oder Butscha.“

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