Zwei Talente der Rhythmischen Sportgymnastik in Ulm Die geflüchteten Zwillinge

Nach der Schule ist immer Training: Nadiia und Veronika Krupytska in der Halle der TSG Söflingen. Foto: Matthias Schmiedel Foto:  

Nadiia und Veronika Krupytska sind vor dem Krieg aus ihrer Heimat Ukraine geflohen, leben und trainieren jetzt in Ulm. Die eineiigen Zwillinge gelten als große Talente der Rhythmischen Sportgymnastik

Der Krieg ist weit weg an diesem Nachmittag. In der Turnhalle im Ulmer Stadtteil Söflingen können sich die Mädchen, die hier trainieren, höchstens ein paar blaue Flecke holen. Nadiia Krupytska hat sich einen Reifen geschnappt und wirft ihn ein paar Mal schwungvoll nach oben. Dann lässt sie ihn in einer eleganten Bewegung von einem Arm über den Rücken auf den anderen Arm rollen. Neben ihr übt ihre Zwillingsschwester Veronika mit einem Stab, an dem ein langes Band befestigt ist. Sie wirft das Band hoch in die Luft, macht eine Rolle auf dem Boden und fängt es beim Aufstehen wieder auf.

 

Ein Hauch Zirkusartistik, gemischt mit Tanz und Ballett, so lässt sich die Rhythmische Sportgymnastik vielleicht am besten in Worte fassen. Für die 16-jährigen eineiigen Zwillinge ist der Sport alles. Eines der wenigen Dinge, die ihnen geblieben sind.

Aufgewachsen sind Nadiia und Nika, wie Veronika von allen genannt wird, in der Ukraine. Mit fünf Jahren begannen sie zu trainieren. Sie gewannen viele Preise und hatten Chancen auf einen Platz in der Nationalmannschaft. Dann überfiel Russland die Ukraine. Der Krieg kam auch in ihre Heimatstadt Saporischschja. Das dortige Atomkraftwerk wurde lange umkämpft. Die beiden Mädchen flohen mit ihrer Mutter nach Deutschland. Der Vater hatte die Familie schon früh verlassen.

Training am Landesstützpunkt für Rhythmische Sportgymnastik in Ulm

Wegen ihres sportlichen Talents wurden Nadiia und Nika nach Ulm geschickt, zum Verein TSG Söflingen. Dort befindet sich der Landesstützpunkt für Rhythmische Sportgymnastik. Seit zwei Jahren trainieren sie hier, an sechs Tagen die Woche. Sie werfen Reifen und Bänder, lassen Bälle rollen und die Keulen kreisen. Alle vier Geräte müssen sie für Wettkämpfe beherrschen. Darja Varfolomeev hat mit ihren 17 Jahren gerade bei den Olympischen Spielen in Paris Gold für Deutschland im Mehrkampf geholt. Die Messlatte liegt also hoch.

Wie immer sind die Zwillinge auch an diesem Tag direkt nach der Schule in die Turnhalle gekommen. Als sie ihre Trainerin Magdalena Brzeska entdecken, fallen sie ihr zur Begrüßung um den Hals. Sie verbringen jeden Tag viele Stunden zusammen. Oft verlassen sie die Halle erst spät am Abend. Das verbindet. Magdalena Brzeska war selbst ein Star der Szene. Sie kam als junges Mädchen von Polen nach Deutschland, holte sich 26 Mal den deutschen Meistertitel und trat 1996 bei den Olympischen Spielen in Atlanta an. Bis heute ist sie immer wieder im Fernsehen zu sehen. Sie tanzte sich bei der Show „Let’s Dance“ zum Sieg und lebte für die Sendung „Die Alm“ mit anderen Prominenten in einer abgelegenen Berghütte. In Ulm ist sie als Cheftrainerin für die Ausbildung der Kinder und Jugendlichen zuständig.

Vier oder fünf Jahre sei ein gutes Alter, um mit dem Sport anzufangen, sagt Brzeska. In einem anderen Teil der Halle machen sogar schon Dreijährige erste Erfahrungen mit der Rhythmischen Sportgymnastik. Viele haben Wurzeln in Ländern, die einmal zur Sowjetunion gehörten. „Rhythmische Sportgymnastik ist dort eine Nationalsportart wie bei uns Fußball“, sagt Brzeska. Eltern aus diesen Ländern würden ihre Kinder vermehrt zum Training schicken und seien eher bereit, viel Zeit zu investieren.

Auch die Trainerin verwechselt die beiden manchmal. Allerdings gibt es einen Trick: Nika ist etwas größer als ihre Schwester. „Noch wichtiger als Talent sind Ausdauer und Liebe für diese Sportart“, sagt Brzeska. „Das bringen die beiden mit.“

Zunächst übernimmt an diesem Nachmittag die Trainerkollegin Evgenia Cherkasenko. Allein das Aufwärmen dauert zwei Stunden. Nach dem Seilspringen geht es mit Krafttraining weiter. Nadiia und Nika stellen sich in Sporttops und Leggins mit den anderen Gymnastinnen in Reihen auf. Es ist eine der wenigen Sportarten, die bis heute fast ausschließlich von Frauen ausgeübt wird. Die Zwillinge trainieren mit Mädchen verschiedener Leistungsniveaus zusammen. Die Halle ist zu klein, um sich aufzuteilen.

Das Reifenlager Foto: Matthias Schmiedel

Das Training ist anspruchsvoll. Evgenia Cherkasenko feuert Kommando um Kommando ab, und die Mädchen biegen sich dazu in alle Richtungen. Sie machen Unterarmstütz, krümmen den Rücken zur Brücke oder legen sich auf den Boden und strecken Po und Beine nach oben. „Dawai, dawai, dawai“, feuert Cherkasenko sie an. Schneller.

Pausen zwischendurch gibt es nicht. Die Mädchen sollen einmal zu den Besten gehören, dafür wird Disziplin verlangt. „Wie laut muss ich noch werden, dass alle Mädchen hören?“, fragt Evgenia Cherkasenko. Der Ton erinnert an ein Bootcamp. Trotzdem sagen Nadiia und Nika, dass ihnen das Training in Deutschland besser gefällt als in ihrer Heimat. „Es ist streng, aber die Trainerinnen sind nett“, sagt Nika. Früher, in der Ukrainer, seien sie oft angeschrien worden.

Die Rhythmische Sportgymnastik ist nicht frei von Kritik. Es gab Berichte, dass Mädchen schlecht behandelt wurden, sich zu sehr verbiegen müssen für diesen Sport. Vor zehn Jahren prangerte die Sportgymnastin Katerina Luschik Ohrfeigen, Essensentzug sowie die Verabreichung von verschreibungspflichtigen Antibiotika an. Das Ganze ging bis vor Gericht.

„Ich musste früher viermal am Tag auf die Waage stehen“, erzählt Magdalena Brzeska. Sie versichert aber, dass diese Zeiten vorbei seien. „Wir kontrollieren kein Gewicht mehr.“ Im Nebenraum der Halle, in dem die Mädchen sich jetzt dehnen, steht allerdings noch eine Waage. Die Zwillinge stellen sich kurz nacheinander darauf und kichern dabei.

Nadiia und Nika konnten nicht viel mitnehmen, als sie ihre Heimat verließen. Auch von ihren Freundinnen mussten sie sich trennen. Viele leben inzwischen ebenfalls im Ausland – in Spanien, Polen, Finnland oder auch Thailand. Manchmal schreiben sie sich auf WhatsApp oder sehen sich über FaceTime. Die Lage in der Ukraine sei weiterhin schlimm, sagen die beiden. Zurück wollen sie nicht. Sie haben sich inzwischen gut in Ulm eingelebt, besuchen hier ein Gymnasium und haben neue Freundinnen gefunden, vor allem unter den anderen Sportlerinnen. „Am Anfang war es sehr schwer, aber jetzt geht es uns super“, sagt Nadiia.

Medaillen beim Turnier in Dubai

Im vergangenen Dezember nahmen sie an einem großen Turnier in Dubai teil – und kamen mit vielen Medaillen zurück. Einmal gewann Nika mit einem Gerät, einmal Nadiia, dann wieder die andere. Sie schwärmen noch immer von diesem besonderen Erlebnis und träumen von weiteren großen Wettkämpfen. Die Reisekosten, ebenso wie Wettkampfanzüge und Handgeräte müssen die Familien eigentlich selbst bezahlen. Weil den Zwillingen dazu aber das Geld fehlt, hat Magdalena Brzeska für sie einen kleinen Sponsor gefunden. Auch die Reise nach Dubai war nur durch die finanzielle Unterstützung einer Fluglinie möglich.

Nachdem sich die Mädchen gedehnt haben, treibt Brzeska sie zur Eile an. Weil die Trainerinnen eine Fortbildung haben, endet das Training heute früher als sonst. „Wir wollen wenigstens zwei Geräte schaffen“, ruft sie. Die Zwillinge wechseln von den Junioren zu den Senioren, studieren jetzt neue Choreografien ein. Nika will noch einmal eine Rolle machen, während das Band in der Luft ist. Doch der Stab knallt an die Hallendecke, das Band verfängt sich oben. Mit einem Ruck bekommt Nika es wieder frei. Auch Reifen, Keulen, Bälle hört man im Lauf des Trainings gegen die Decke wummern.

Es ist das Dilemma dieses Trainingsortes: Die Mädchen sollen hoch werfen, um Zeit für ihre Drehungen zu haben. Doch die Halle in Söflingen ist dafür zu niedrig. „Wir sind oft damit beschäftigt, irgendwas von oben runterzuholen“, seufzt Magdalena Brzeska. Außerdem haben die Mädchen kaum Platz für ihre Choreografien, weil zu viele auf zu engem Raum trainieren.

„Eigentlich gehören Nika und Nadiia in die Nationalmannschaft“, sagt Brzeska. Dann könnten sie am Bundesstützpunkt in Fellbach-Schmiden trainieren, wo die Bedingungen besser sind. Doch dafür fehlt ihnen der deutsche Pass, deshalb blieb ihnen auch die Teilnahme an den Deutschen Meisterschaften verwehrt. Inzwischen ist er beantragt. Die Trainerin hofft, dass die Mädchen ihn noch in diesem Jahr bekommen.

Davon lassen sie sich nicht entmutigen. „Wir machen einfach weiter“, sagt Nadiia. Ein Leben ohne den Sport können sie sich nicht vorstellen. „Was sollen wir sonst nach der Schule tun?“, sagt Nika. „Nur Hausaufgaben, das ist langweilig.“

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