Thomas Dold ist einer der besten Treppenläufer der Welt. Ich bin gar keiner. Ein ungleiches Wettrennen über die 52 Etagen 190 Höhenmeter des Frankfurter Maintowers.

Steinach/Frankfurt am Main - Maintower Frankfurt. Thomas Dold hastet vorbei, würdigt mich keines Blickes. Immer zwei Stufen auf einmal, das Geländer, an dem er sich um die Ecken schwingt, zittert. Ich wackle auch schon ein wenig, vor allem die Oberschenkel. Vor mir liegen noch etwa 40 Etagen in einem fensterlosen Treppenhaus, das dank der Erfindung von Aufzügen eigentlich nur für Notfälle gedacht ist oder für Leute, die eben mal ohne Lift zwei oder drei Stockwerke überbrücken wollen. Dold hat dagegen noch mehr als doppelt so viele vor sich plus eine Liftfahrt nach unten. Und das Ganze will er schneller schaffen als ich. Na dann!

 

Thomas Dold? Genau, das ist der 28-Jährige aus Steinach im Kinzigtal, der Treppen raufrennen kann wie kaum ein Zweiter auf der Welt. Begonnen hat der Wirtschaftswissenschaftler als Jugendlicher mit Fußball, 2001 versuchte er sich im Berglaufen, was im Schwarzwald nahe liegend ist. Bis 2006 war er Mitglied der Nationalmannschaft, aber schon drei Jahre früher, 2003, spezialisierte sich Dold auf exotische Disziplinen wie Rückwärtslaufen oder Treppenrennen. 41 Siege weltweit stehen heute auf seinem Konto.

Die 2046 Stufen mit 390 Meter Höhenunterschied im Wolkenkratzer Taipei 101 stürmte er in 10:53 Minuten nach oben. Bekannt wurde er aber vor allem durch eins: Von 2006 bis 2012 gewann er siebenmal hintereinander den Lauf auf das Empire State Building in New York. Dabei rennen die Teilnehmer 1576 Treppenstufen nach oben, überwinden 320 Höhenmeter bis zur Aussichtsplattform im 86. Stock. Der Preis für den Sieger nach etwas mehr als zehn Minuten Schinderei? „Ein Händedruck“, sagt Dold, für den New York aber wichtig ist. Hier werden die Namen der Szene gemacht, es ist der populärste „Run up“ der Welt. In diesem Februar musste Dold grippekrank das Rennen in Big Apple absagen. Das nächste Ziel könnten jetzt die 2041 Stufen im World Summit Wing Hotel in Peking sein. Dort steigt Anfang August ein großer Treppenlauf. Vielleicht mit ihm, noch wird verhandelt.

Ein paar Sekunden sehe ich Dolds Rücken, dann ist er entschwunden auf dem Weg nach oben. Eine Weile länger höre ich noch seinen Atem, dann ist es ruhig. Das Treppenhaus im Stammhaus der Hessischen Landesbank überbrückt bis zum 52. Stock etwa 190 Höhenmeter. Weiße Wände, mausgraue Stufen, Edelstahlgeländer, alle neun Schritte Richtungswechsel. Das Ganze fensterlos und ungefähr so heimelig wie ein Hamsterrad. Eigentlich waren wir für eine ganz normale Porträtgeschichte verabredet, Thomas Dold hatte dann die Idee, den Reporter mal spüren zu lassen, wie sich die Hatz nach oben so anfühlt. Wir laufen gemeinsam los, so sein Plan, und er wird versuchen, mich zu überrunden. Ich muss „nur“ 1026 Stufen packen, er 2052 – und eine Liftfahrt nach unten. Am Telefon habe ich spontan Ja gesagt, jetzt bin ich im 11. Stock und denke an Dolds Frage vor einer Stunde, als wir uns in Mannheim im ICE getroffen haben. „Ihre Pumpe ist schon okay, oder?“ Ich hoffe es inständig, denn die Oberschenkel brennen jetzt schon, die Atmung rasselt, und der Puls hämmert im Hals – noch 41 Stockwerke.

Zweifacher Weltmeister im Rückwärtslaufen

Thomas Dold sucht gerne den Kick, den Reiz des Außergewöhnlichen. Deshalb ist er auch zweifacher Weltmeister im Rückwärtslaufen, obwohl es etliche Orthopäden gibt, die diese Disziplin als ziemlich mörderisch für Muskeln und Gelenke ansehen. Dold tut es trotzdem, aber die ganz große Faszination geht bei ihm von der Treppe aus. Stufe um Stufe am Limit, das reizt sein Naturell. „Die Treppe ist der steilste Berg“, sagt Dold. Und dann schwärmt er von dem Gefühl, sozusagen „nach oben zu fliegen“. Dold behauptet, dass das Rennen in freudlosen Treppenhäusern auch ein Stück weit leicht sein könne. Eine Einschätzung, die schwer zu verstehen ist, aber gut. In New York quält Dold mit seinem Läufertalent und seiner „Leichtigkeit“ nicht nur sich, sondern vor allem auch die Konkurrenz, die er auf den 1576 Stufen regelmäßig hinter sich lässt. „Für den Sport brauchst du Leidenschaft“, sagt er mit einem seligen Strahlen im Gesicht. Die Betonung liegt dabei aber ganz eindeutig auf Leiden.

Und wie war das noch mal mit der Leichtigkeit? Dold erklärt, dass man Treppen – außer im Wettkampf – auch locker laufen könne, wenn man denn die Form dafür habe. Was er damit meint, habe ich auf dem Weg vom Hauptbahnhof zum Maintower gespürt. Natürlich ignoriert der Athlet die Rolltreppe, die aus den Tiefen der S-Bahn kommt. Mir fehlt dazu eigentlich die Leidenschaft, aber die Rolltreppe ist zu langsam, um Dold zu folgen – und ich kenne den Weg zum Maintower nicht.

Das mit dem Leiden verstehe ich schon gut, sehr gut. 24 Stock, Dold dürfte jetzt zum ersten Mal fast oben sein, aber das ist mir egal. Ich habe einen Rhythmus entwickelt, der mich am Leben lässt: einatmen, Stufe, ausatmen, Stufe. Und wieder von vorn. Plötzlich tritt eine Frau mit zwei Aktenordern unterm Arm in das Treppenhaus, ihrem Blick nach sehe ich ziemlich merkwürdig aus, vorsichtig gesagt. Wahrscheinlich läuft mir das Laktat schon aus den Ohren. Einen Kerl mit kollapsrotem Kopf in Sportklamotten hat die Frau im Bankturm sicher noch nicht oft gesehen. Dold ist der Einzige, der in dem nichtöffentlichen Treppenhaus mit einer Sondergenehmigung trainieren darf. Bis Ostern hat sich der Badener zusätzlich auf den etwas mehr als 700 Stufen im Stuttgarter Fernsehturm fit gehalten. Als der Turm aus Brandschutzgründen für Besucher gesperrt wurde, war auch für ihn Schluss. Jetzt kann er nur noch in der Bankenmetropole üben.

Sieben Stockwerke zum Einlaufen

Mittlerweile ist es mir übrigens piepegal, ob mich Thomas Dold überrundet oder nicht. Aber es wird schwer für ihn, da ich vor dem Start bei unserer Zugfahrt so lange gejammert habe (doppelt so alt, Kondition eines Schuhkartons, ernste Knieprobleme), dass mir Dold großzügig die ersten sieben Stockwerke zusätzlich vorgegeben hat. „Da können Sie sich dann in Ruhe einlaufen“, hat er gesagt. Sieben Stockwerke zum Einlaufen – das klingt für einen Menschen, der Rolltreppen und Fahrstühle durchaus zu schätzen weiß, fast wie Hohn.

Das Laufen von Stufen hat auch etwas mit Struktur zu tun. So eine Treppe ist ein klar definiertes Ding. Und Dold ein Typ, der so was mag, weil er seine Zeit so effektiv wie möglich nutzen will. Treppenlaufen ist kurz, aber heftig. „Du bist schneller am Ziel als beim Berglauf, der Schmerz ist also kürzer, aber deutlich intensiver“, sagt er. Die Stufen seien ideal, um seine psychischen und physischen Grenzen auszuloten – „außerdem gibt es in Treppenhäusern kein schlechtes Wetter“. Thomas Dold gibt sein Wissen als Referent bei Seminaren, als Trainer, Motivator und Team-Manager weiter, er hat auch den Verein Run2sky gegründet, unter dessen Dach sich Leichtathleten sammeln sollen, deren Ziel die Teilnahme an Olympischen Spielen ist und die Dold vor allem in mentaler Bereitschaft und Lauftechnik unterstützen will.

44. Stock: gleich platzen meine Oberschenkel, meine Herzkranzgefäße oder beides. Es gibt ja ein Gefühl, dass man „runners high“ nennt und das schmerzfreie Euphorie unter körperlicher Anstrengung beschreibt. Schön, wer es erleben darf. Ich warte vergebens. 48. Stock, Schweiß brennt in den Augen, den Pulsmesser habe ich ausgeschaltet. Und plötzlich steht sie da. Die 52. – geschafft, und Dold ist nicht da!

Jeden Tag eine kleine Herausforderung

Er kommt 40 Sekunden später angeflogen. Kurz danach sitzen wir beide auf der letzten Stufe vor der Aussichtsterrasse und schnaufen um die Wette. Ohne die sieben Stockwerke Vorsprung hätte ich verloren. Aber egal, ich fühle mich als Sieger, weil ich meine persönliche Bestmarke von 74 Stufen (Tiefgarage bis dritter Stock) auf 1026 gesteigert habe. Und nach einer Minute spüre ich ein Faszinosum des Sports. Wirklich schön, wenn der Schmerz nachlässt.

Dold will mit seinem Sport zeigen, wie wichtig Fitness ist. In Stuttgart rannte er jüngst im Auftrag einer Krankenkasse einen Tag lang die 72 Stufen der S-Bahn-Station Stadtmitte gegen jeden, der wollte. Er auf der normalen, der Gegner auf der Rolltreppe. Gegen einen hat er verloren. „Jeder sollte täglich seine kleine sportliche Herausforderung haben“, sagt er.

Meine Herausforderung endet nach knapp 13 Minuten mit Muskelzucken und dem erhabenen Gefühl, etwas vielleicht Sinnloses, aber nicht Alltägliches geschafft zu haben. Als ich etwas hüftsteif den Maintower verlasse, hetzt Thomas Dold zum dritten Mal nach oben. „Sonst lohnt sich der Aufwand nicht“, sagt er zum Abschied. Auf dem Weg von der S-Bahn in die Bahnhofshalle benutze ich die normale Treppe.