Als sich die Wehrmacht 1944 aus Frankreich zurückzog, verlor ein Stuttgarter Soldat auf einem Bahnhof seine Tasche mit Dokumenten. 75 Jahre später taucht die Tasche in der Normandie wieder auf – und eine Französin beginnt, zu recherchieren.

Stuttgart - Mehr als zehn Jahre hat Michelle Pineau die Ledertasche in einem Schrank ihres Schlafzimmers aufbewahrt. „Ich wusste, dass sich darin etwas Besonderes befindet“, erzählt sie, „aber ich habe sie nicht angerührt.“ Michelle Pineau wohnt unweit von Caen, einer Stadt in der Normandie, aber der Inhalt der Ledertasche verbindet sie mit dem Schicksal eines Soldaten aus Stuttgart, der im Zweiten Weltkrieg in Frankreich gekämpft hat. In der Tasche hat die Französin Fotos, Notizbücher und Briefe gefunden, die sich einst im Besitz von Julius Lamparter befanden. Lamparter lebte vor dem Krieg im Stuttgarter Osten.

 

Die Geschichte beginnt Ende 1944 in der Nähe eines Bahnhofs in Paris: Wenige Monate waren seit dem D-Day, der Landung der Alliierten in der Normandie, vergangen. Die deutsche Wehrmacht hatte sich nach und nach aus dem besetzten Frankreich zurückgezogen, Paris wurde nach der „Operation Overlord“ im August befreit. In der Hauptstadt streifte ein 14-jähriger Junge um das Bahnhofsgelände herum, auf den Schienen entdeckte er dabei die Tasche von Julius Lamparter. Zu Hause konnte niemand etwas mit den Briefen des Stuttgarter Soldaten anfangen, keiner verstand Deutsch. Jahrzehntelang lag die Tasche nun auf dem Dachboden des Hauses.

Das Bild gewinnt an Konturen

Dann findet sich ein Weg aus dem Vergessen. Der Sohn des Finders ist mit der Familie Pineau befreundet, im Jahr 2000 gibt er die Tasche Michelle Pineau, die in Caen Deutsch unterrichtet. „Ich habe nur flüchtig auf die Briefe und den Namen des Soldaten geschaut“, erzählt Michelle Pineau. Erst viele Jahre später hat sie genug Zeit, um sich näher mit dem Inhalt der Ledertasche zu beschäftigen. Im Februar 2014 bereitet sich Frankreich auf das Gedenken an den D-Day vor, der 70 Jahre zurück liegt – und auch Michelle Pineau nimmt die Spur in die Vergangenheit auf.

Mühsam setzt sie wie bei einem Puzzle die Einzelteile eines fremden Lebens zusammen, bis das Bild schließlich an Konturen gewinnt. Michelle Pineau liest den selbst verfassten Lebenslauf des Julius Lamparter, sie erfährt wie dieser erst die Realschule und dann die Höhere Handelsschule besuchte, wie Julius Lamparter seine Lehre bei einer Stuttgarter Handschuhfabrik absolvierte, bevor er in das elterliche Geschäft einstieg: Die Lamparters betrieben im Osten der Stadt einen Textilwarengroßhandel, sie hatten zwei Söhne: Hermann und Julius. Im September des Jahres 1939 – vor 75 Jahren – endete für Hermann und Julius Lamparter mit dem deutschen Überfall auf Polen der Frieden, genau wie für Millionen andere Europäer.

„Sein Schicksal geht mir sehr nahe“

Beide wurden in die Armee eingezogen. Michelle Pineau rekonstruiert im Frühjahr 2014 aus alten Wehrmachtsdokumenten, dass Julius Lamparter 1940 erst am Oberrhein und dann im Elsass kämpfte, dass er im Oktober nach Warschau versetzt wurde, dort erkrankte und ins Lazarett kam. Später war er wieder an der Westfront im Einsatz und arbeitete im belgischen Flandern als Fahrer und in einer Schreibstube. In Caen liest Michelle Pineau die Dokumente und Briefe des Julius Lamparter und kann nicht mehr aufhören. „Sein Schicksal geht mir sehr nahe“, erzählt sie, „ich wollte wissen, was er für ein Mensch gewesen ist, ich konnte und wollte mir nicht vorstellen, dass er ein Nazi war.“

Michelle Pineau liest Briefe, die die Eltern von Julius Lamparter ihrem Sohn schrieben, Briefe seines Bruders und von Freunden. „Ich bin ihm dabei Tag für Tag näher gekommen“, erzählt die Deutschlehrerin, die im Laufe der Zeit auch erfährt, welche Ängste die Menschen in Stuttgart während der Luftangriffe ausstehen mussten. Aus den Dokumenten geht hervor, dass Freunde und Verwandte von Julius Lamparter während des Kriegs starben, er in der Ferne kämpfen musste und darunter litt. Ein unsichtbares Band verbindet nun die Familiengeschichte der Lamparters aus Stuttgart mit jener der Familie Pineau aus Caen. Denn auch für die Pineaus brachte der Zweite Weltkrieg eine Zäsur: Michelle Pineaus Vater kam als Zwangsarbeiter in die Agfa-Werke nach Leipzig. „Dennoch hatte er danach keine Ressentiments gegenüber den Deutschen, nur die Verantwortlichen hat er gehasst.“

Hat er den Krieg überlebt?

Über Monate hinweg entziffert Michelle Pineau die Briefe und Notizen, die zuvor mehrere Jahrzehnte unbeachtet in der Ledertasche lagen. Doch die alten Dokumente können nicht all ihre Fragen beantworten: Was war bei der Rückkehr von Julius Lamparter nach Deutschland in Paris geschehen? Hat er den Krieg überlebt und falls ja: Hat er Nachkommen? Michelle Pineau sucht im Sommer 2014 nach Antworten, die sie in der alten Tasche nicht findet. Sie wählt die Vorwahl von Deutschland – und dann jene von Stuttgart.

Am Dienstag lesen Sie! Michelle Pineau recherchiert in Süddeutschland und erfährt mehr darüber, wie es Julius Lamparter nach dem Ende des Kriegs erging.