Der Künstler Edgar Harwardt hat in der Stuttgarter Erdbebenwarte alte Seismogramme entdeckt. Darauf sind alle Bombenangriffe verzeichnet. Da die schwersten Bombardements jetzt 70 Jahre zurückliegen, hat Harwardt die Bögen nun öffentlich vorgestellt.

Klima/Nachhaltigkeit : Thomas Faltin (fal)

Stuttgart - Selbst die Erdbebenforscher haben jahrzehntelang überhaupt nicht daran gedacht: Aber ihre Seismografen, die rund um die Uhr die kleinsten Erschütterungen aufzeichnen, registrieren natürlich nicht nur Erdbeben, sondern auch Baustellen, Autoverkehr – und selbst Fußballtore. Alles eben, was den Boden zum Wackeln bringt. „Stuttgart besitzt eines der vollständigsten Archive in Deutschland“, sagt Manfred Joswig, der Leiter des Instituts für Geophysik an der Universität Stuttgart: „Wir erkennen jetzt: Das ist auch ein Archiv der Kulturgeschichte.“

 

So haben seine Mitarbeiter zum Spaß die Papiere ausgewertet, die der Seismograf tief im Keller der Villa Reitzenstein am 19. Mai 2007 produziert hat: An diesem Nachmittag war der VfB Stuttgart, man mag es kaum noch glauben, Meister geworden. Um 15.49 Uhr, als Thomas Hitzlsperger gegen Cottbus den Ausgleich schoss, hat das Gerät deutlich ausgeschlagen – und als das Spiel um 17.19 Uhr zu Ende war, konnte sich der Zeiger kaum noch beruhigen.

Dieses kulturhistorische Potenzial der Aufzeichnungen, die in Stuttgart 1893 mit der Gründung der Erdbebenwarte begannen, gelte es erst noch zu bergen, sagt Joswig. Für ihn ist das ein Beispiel, dass wissenschaftliche Arbeit immer sinnvoll ist, auch wenn manchmal zu Beginn der Ertrag noch gar nicht benannt werden kann. Der Institutsleiter sagt dies nicht von ungefähr: Die Universität Stuttgart wolle sein Institut schließen. „Man darf aber nicht kurzfristig denken“, so Joswig.

Alte Bögen dürfen nur mit Handschuhen angefasst werden

Der Künstler Edgar Harwardt ist nun einer der ersten, der diese andere Seite der Seismologie unter die Lupe nimmt. Schon vor 17 Jahren hatte er erstmals eine der langen Papierfahnen in Händen gehalten – in früheren Jahrzehnten wurden noch mit Russ überzogene Blätter benutzt, in die ein Griffel weiße Striche zog. Die empfindlichen Bögen dürfen heute nur mit Handschuhen angefasst werden. Jetzt hat Harwardt den Jahrgang 1944 durchgeschaut, rund 2000 Seismogramme sind das, und er ist auf jene Erschütterungen gestoßen, die Stuttgart nicht nur geografisch, sondern auch emotional ins Herz getroffen haben: die Bombenangriffe der Alliierten.

Sie sind auf den Blättern eindeutig erkennbar – jede explodierende Bombe hat die Erde beben lassen. Auf der Richterskala sind das zwar nur kleine Beben, die höchstens bei zwei lägen, so Manfred Joswig: „Aber sie haben für die Stuttgarter in direkter Nähe, quasi im Epizentrum, gelegen und waren furchterregend.“ Zudem dauere ein Erdbeben in der Regel wenige Sekunden; die Bombenangriffe aber waren manchmal nach einer Stunde nicht vorüber: „Das war eine gefühlte Unendlichkeit für die Menschen.“

Harwardt sieht in den Seismogrammen Bildmeditationen

In den Seismogrammen haben sich diese Erschütterungen als wissenschaftlich kalte Strichlandschaft erhalten. Für Edgar Harwardt sind diese Blätter dennoch tief emotionale „Bildmeditationen“. Die vielen kleinen Wellen unten auf einem Blatt stammen von der unaufhörlichen Bewegung des Meeres, die der Seismograf aufzeichnet; darüber kämen aus dem Nichts die zivilisatorischen Erschütterungen: „Plötzlich geschehen sehr, sehr ernste, tödliche Dinge, die dann zurückfallen in erhabene Meeresstille.“ Harwardt hat die Ausschläge vielfach vergrößert, so dass nur noch grafische Striche übrig bleiben. Auf seltsame Weise ist das Leid der Bombennächte codiert – gerade durch ihre Abstraktheit beginnen die Zeichen zu sprechen.

Der Künstler ist aber erst am Anfang – er konnte jetzt bei der ersten Vorstellung der Blätter im Institut für Geophysik noch gar nicht sagen, was er weiter mit ihnen zu tun gedenkt. Auch eine öffentliche Präsentation ist bisher nicht geplant. Allein die Seismogramme für die Kriegsjahre in Stuttgart umfassten 20 Kisten, jede mit bis zu 500 Blättern – es sei also noch eine riesige Arbeit, sie alle auszuwerten. Aber Harwardt wollte jetzt, da sich 2014 die schwersten Angriffe auf Stuttgart zum 70. Mal jähren, an die furchtbaren Nächte in den Schutzkellern erinnern.

Kollegen helfen sich über die Grenzen hinweg

Mitten in diesem Bombenkrieg vollzog sich in der Erdbebenwarte im Übrigen eine zutiefst menschliche Geschichte. Der Verantwortliche für die Geräte in der Villa Reitzenstein war nämlich ein Franzose und Kriegsgefangener, Elie Peterschmitt. Er hatte in Straßburg als Forscher gearbeitet und war schon länger mit seinem Stuttgarter Kollegen Wilhelm Hiller bekannt gewesen. Dieser setzte sich, als Peterschmitt als Kriegsgefangener nach Stuttgart kam, für den Kollegen ein. So durfte Peterschmitt nicht nur in der Villa Reitzenstein arbeiten, direkt unter den nationalsozialistischen Machthabern in Württemberg, sondern er durfte auch aus dem Lager Gaisburg ausziehen und privat wohnen.

Dies rettete Peterschmitt vermutlich das Leben, denn im April 1943 fielen Bomben auf das Lager und töteten 300 Menschen. Später revanchierte sich Elie Peterschmitt, als die Franzosen Hiller nach ihrem Einmarsch gefangen nahmen und auf eine Insel im Atlantik sperrten. Aber diese lebenslange Freundschaft gehört zu einer ganz anderen Geschichte.