Im ersten halben Jahr hat der NSU-Prozess mehr Fahrt aufgenommen, als viele erwartet hatten. Doch allmählich schlagen die negativen Eigenschaften des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl durch. Er gibt sich oberlehrerhaft und motzt Zeugen an.
München - Formal ist alles noch offen, und die Richter werden erklären, sich allenfalls eine „vorläufige Meinung“ gebildet zu haben. Aber wer Ohren hat und nun seit mehr als einem halben Jahr dem Prozess gegen den rechtsterroristischen NSU zugehört hat, der weiß: alles spricht dafür, dass die Hauptangeklagte Beate Zschäpe vom 6. Strafsenat des Oberlandesgerichts München zur Höchststrafe verurteilt werden wird, als Mörderin zu lebenslanger Haft. Und dass dann auch noch die „besondere Schwere der Schuld“ festgestellt wird, die zusätzlich überschlägig fünf weitere Haftjahre bringt über die normale Mindestverbüßungszeit von 15 Jahren hinaus.
Zschäpe ist angeklagt, bei den neun Morden an Kleingewerbetreibenden türkischer und griechischer Herkunft sowie an der Ermordung einer Polizistin in Heilbronn beteiligt gewesen zu sein. Außerdem wird ihr die Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung, menschengefährdende Brandstiftung und die Beteiligung an Banküberfällen vorgeworfen. Alle Argumentationsversuche der Verteidiger, die darauf abzielen, es könne ihr bei den zehn Morden vielleicht nur Beihilfe und nicht die Mittäterschaft nachgewiesen werden, perlen am Vorsitzenden Richter Manfred Götzl und seinen Kollegen ab wie an Teflon.
Parallelen zum Prozess gegen die RAF-Terroristin Verena Becker
Dabei ist diese Rechtsfrage so eindeutig nicht zu beantworten. Gerade hat der Bundesgerichtshof das Urteil gegen die RAF-Terroristin Verena Becker bestätigt. Becker war 2012 vom Oberlandesgericht Stuttgart lediglich wegen Beihilfe an der Ermordung des damaligen Generalbundesanwaltes Siegfried Buback zu vier Jahren Haft verurteilt worden; auch sie war von der Bundesanwaltschaft zunächst als Mörderin angeklagt worden. Die Fälle ähneln sich, nicht nur weil es sich jeweils um politisch motivierte Terrortaten handelt. In beiden Fällen steht auch ein Bekennerschreiben, das von der jeweils Angeklagten auf den Weg gebracht worden ist, im Zentrum der Anklage. Gegen Becker hatten die Ankläger sogar mehr in der Hand, als bisher in München vorgelegt worden ist, etwa dass diese Angeklagte auf einem Gruppentreffen den Mord befürwortet und gefordert hatte. Bei Zschäpe behaupten die Ankläger, dass sie das Geld verwaltet und den beiden inzwischen toten Haupttätern Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos einen „Anschein von Normalität und Legalität“ verschafft habe.
Dass Zschäpes Position immer schwieriger wird, hängt auch mit der Form ihrer Verteidigung zusammen. Ihre drei Anwälte Wolfgang Heer, Wolfgang Stahl und Anja Sturm, haben der Mandantin offenkundig geraten zu schweigen. Unmittelbar nachdem sie sich gestellt hatte, hatte Zschäpe noch signalisiert, aussagen zu wollen. Die Verteidiger fürchten wohl, dass alles, was Zschäpe sagt, als Schutzbehauptung abgetan werden, manches auch unglaubwürdig klingen könnte. Und sie hofften, dass einer schweigenden Angeklagten die Mittäterschaft nicht nachgewiesen werden kann. Diese Hoffnung trügt, wie von Verhandlungstag zu Verhandlungstag deutlicher wird.
Zschäpes Verteidiger sind dem Prozess nicht gewachsen.
Denn es kommt in einem solchen Prozess nicht darauf an, wie jedes einzelne von zehntausend Puzzleteilen aussehen mag, das an Hunderten von Verhandlungstagen auf den Richtertisch gelegt wird. Es kommt darauf an, wie die Richter das alles in ihrer „freien Beweiswürdigung“ bewerten, wie offen sie sind, ihre „vorläufige“, aus den Akten der Bundesanwaltschaft gewonnene Meinung zu überprüfen. Sie sind nicht sehr offen, wie die Erfahrung zeigt, jedenfalls nicht bei dieser Form der Verteidigung.
Denn Heer, Stahl und Sturm haben sich in ihrer Prozessstrategie verfangen. Sie können eine schweigende Angeklagte nicht überzeugend, nicht zielführend und schon gar nicht mit dem notwendigen Furor verteidigen. Sie haben keine Idee, wohin sie den Prozess lenken könnten, um ihrer Mandantin zu helfen. Sie können lediglich an einzelnen Zeugenaussagen herummäkeln, Zweifel säen – und jeder fragt sich: Weshalb gerade an dieser Stelle, was nützt das nun wieder der Angeklagten? Und zumindest die beiden Männer haben auch nicht die Statur, einem sich mächtig fühlenden und auch so agierenden Götzl Paroli bieten, gar dieser Hauptverhandlung einen Stempel aufprägen zu können. Der Vorsitzende Richter behandelt sie, sobald sie nur kleine formale Fehler machen, wie Schulbuben, raunzt sie an. Die Verteidiger machen Fehler, auch unnötige formale. Und sie lassen sich Götzls Tiraden bieten, rennen allenfalls beleidigt aus dem Saal oder schweigen mit Flunsch. Zschäpes Verteidiger, man muss es leider sagen, sind einem Prozess dieser Größenordnung nicht gewachsen.
Götzl leitet den Prozess bajuwarisch-rustikal
Vor allem aber hängt Zschäpes Zukunft von Manfred Götzl ab. Dem Vorsitzenden ging der Ruf voraus, ein brillanter Jurist, aber ein unbeherrschter, aggressiver und lautstarker Vorsitzender zu sein. In diesem so spektakulären Verfahren nahm Götzl sich zusammen, und er nahm sich zurück, soweit das bei ihm geht. Er leitete den Prozess bajuwarisch-rustikal, aber umsichtig. Es gelang ihm zunächst, zu allen Prozessbeteiligten ein erträgliches und auch belastbares Verhältnis aufzubauen. Im ersten halben Jahr nahm der Prozess mehr Fahrt auf, als viele erwartet hatten. Das hing auch mit der Struktur zusammen, die Götzl dem Verfahren gegeben hat, indem er fast nur Polizeibeamte als Zeugen lud. Götzl ist ein Virtuose der Strafprozessordnung.
Nach dem halben Jahr aber kommt der alte Götzl wieder zum Vorschein. Er wird immer häufiger laut; er fällt anderen Menschen ins Wort, obwohl er genau dieses Verhalten bei anderen hasst; er gibt sich immer häufiger penetrant oberlehrerhaft; seine Unbeherrschtheit und seine Emotionen suchen sich Raum. Und es wird immer deutlicher, dass er sich in andere Menschen und in andere Lebenssituationen als die eigene nicht hineinversetzen kann. Das hängt auch damit zusammen, dass nun nicht mehr Polizeibeamte, sondern Familienangehörige, Bekannte und frühere Freunde der fünf Angeklagten gehört werden. Viele von denen kommen aus dem ostdeutschen Subproletariat, wo der Alkohol zum Alltag gehört, Arbeit, die einen Menschen ernähren kann, weniger. Dort ist nicht die Sprache das Mittel der Wahl, um Konflikte auszutragen oder auch nur einander nahezukommen. Und so selten sind dort der dumpfe Rechtsradikalismus und der ganz gewöhnliche Rassismus auch nicht. Aber es handelt sich um Menschen, im Münchner Prozess um Zeugen. Zeugen, die auf einen Götzl treffen.
Richter Götzl herrscht mitunter Zeugen an
Vor allem aber kann Götzl keine Empathie zeigen. Wenn Angehörige der Opfer ihrem Leid, ihren Schmerzen, ihrer Verzweiflung, auch ihrer Wut Raum lassen, dann betrachtet Götzl sie fassungslos. Ein tröstendes, ein verständnisvolles Wort ist sein Ding nicht. Wenn Zeugen ihre Unsicherheit zeigen, von ihren Nöten berichten, dann schweigt Götzl bestenfalls, im weniger guten Fall herrscht er sie an. Dieser Mann erweckt den Eindruck, dass er sogar seinen Geburtstag nach den Regeln der Strafprozessordnung feiert.
Beate Zschäpe muss nicht nur Götzl, sie muss auch die Strafprozessordnung fürchten und das, was die Richter aus ihr gemacht haben. Die Polizeibeamten, die im ersten halben Jahr vernommen wurden, konnten sich präzise erinnern, scheinbar auch an Ereignisse, die bis zu 15 Jahre zurücklagen. Sie berichteten glaubhaft und überzeugend. Aber kann sich irgendein Mensch, und sei er erfahrener Polizeibeamter, nach vielen Jahren an all diese Details erinnern? Natürlich kann er das nicht. Man tritt all diesen Beamten nicht zu nahe, wenn man ihnen unterstellt, sie hätten wenige Tage vor ihrer Vernehmung all das nachgelesen, was in den Akten steht. Beamten ist nicht nur erlaubt, von ihnen wird erwartet, dass sie vor ihrer Zeugenvernehmung die Akten noch einmal durchlesen. Das unterscheidet sie von anderen Zeugen. Und das macht sie – jedenfalls in den Augen der Richter – zu so guten Zeugen. In Wahrheit sagt der beamtete Zeuge nicht aus, an was er sich erinnert, er sagt das aus, was er sich angelesen hat.
Polizeibeamte gelten als sehr glaubwürdig
Und die Richter haben genau dieselben Akten vor sich liegen, die der Zeuge gelesen hat. Sie schöpfen aus dem Inbegriff dieser Akten ihr Vor-Wissen; sie haben sich auf der Grundlage dieser Akten ihre Vor-Urteile gebildet. Und sie stellen, gerade in München, erfreut fest, wie wenig Abweichungen es zwischen dem Inhalt der Akten und dem Inhalt der Aussagen von Polizeibeamten gibt. Auch deshalb gelten Polizisten als so glaubwürdige Zeugen. Der deutsche Strafprozess nach den Regeln der ehrwürdigen Strafprozessordnung ist über weite Strecken ein Ritual wie die Fronleichnamsprozession. Nur das die Monstranz des Rechtsstaats, die hier vorausgetragen wird, leer ist – und die Wahrheitsfindung erschwert.
Die Polizei hat, jeder weiß es, bei den Ermittlungen im NSU-Komplex schwere Fehler gemacht; sie hat einseitig ermittelt. Die Nebenkläger versuchen es herauszufinden. Das Aktenwissen der Polizei-Zeugen bildet für sie aber eine kaum durchdringbare Mauer, wenn es darum geht, Aussagen in Zweifel zu ziehen, Widersprüche aufzudecken. Auch deshalb kam Richter Götzl so schnell voran. Auch deshalb gibt es so wenig Neues.
Warum der Prozess zurzeit stockt
Jetzt aber werden jene Menschen gehört, die keine Akten lesen durften, die noch nie in einem Gerichtssaal waren. Die in München fünf Stunden und länger auf den Beginn ihrer Aussage warten müssen. Die mehrfach geladen und kurzfristig wieder abgeladen werden. Die sich nicht ausdrücken können. Die von Götzl, der andere ermahnt, keine Suggestivfragen zu stellen, angemotzt werden. Denen der Richter erklärt, er glaube ihnen nicht – und sie so unter Druck setzt. Und nach dem Richter kommen die Nebenklägervertreter, denen jetzt gelingt, was ihnen bei den Polizeibeamten nicht gelungen ist: Zeugen aggressiv zu vernehmen, zu verunsichern, in die Enge zu treiben. Ja, es sind unangenehme Zeugen darunter, Rechtsradikale, Ausländerfeinde. Aber manchmal auch nur Menschen aus einer anderen Welt. Jetzt stockt der Prozess. Wenn es so weitergeht, kann er noch Jahre dauern. Zur Wahrheitsfindung hat das bisher nicht beigetragen.
Es geht um furchtbare Verbrechen. Es geht um unsägliches Leid. Es geht auch um einen Angriff auf die Grundwerte dieser Gesellschaft. Es kann sein, dass es mit Beate Zschäpe die Richtige trifft. Dass diese Frau all das so getan hat, wie es ihr die Anklage vorwirft. Vieles spricht dafür. Aber diese Gesellschaft hatte sich einst mühselig dazu durchgerungen, anspruchsvollere Standards für die strafrechtliche Verurteilung eines Angeklagten anzuwenden. Wieder einmal, so steht zu befürchten, findet sie in einem Terroristen-Prozess die Kraft dazu nicht. Und die Rechten, die dieser Gesellschaft sowieso alles Böse zutrauen, werden sich in ihren Vorurteilen bestätigt sehen.