Im Winnender Himmelreich wird der Mädleswein mit knapp 100 Grad Oechsle gelesen. Anderswo sind die Mostgewichte noch weit höher. Das könnte alkoholisches Übergewicht nach sich ziehen, warnt Weinanalyst Horst Klingler.

Winnenden - Es ist ein Bilderbuch-Herbstmorgen. Die Sonne lacht von einem wolkenlosen blauen Himmel, als im Weinberg oberhalb von Winnenden-Hertmannsweiler die ersten Lesehelfer eintrudeln. Unter amtierenden und Ex-Stadträten ist der Oberbürgermeister Hartmut Holzwarth mit seiner Frau im Himmelreich erschienen – die Lage heißt wohl nicht von ungefähr so –, das Rebscherle in der einen, einen Eimer in der anderen Hand. Sein Vorvorgänger Karl-Heinrich Lebherz hat eine Rätsche mitgebracht, die ihm zum 50. Geburtstag geschenkt worden war. „Jetzt bin ich 83 und trage keine Butte mehr“, sagt der sportliche Pensionär gewohnt verschmitzt. Das überlässt er jetzt anderen. Dafür gibt er mit der Rätsche das Signal, dass es jetzt losgeht.

 

„Wir fangen unten an, dann tut ihr euch weniger schwer“, sagt Karl-Heinz Eckstein, der den Stadtwengert betreut, in dem an diesem Morgen Riesling und Trollinger gelesen werden. Sein Vorgänger Ernst Schlichenmaier, der den 6,5 Ar großen Wengert 30 Jahre lang gepflegt hat, zückt sein Refraktometer und streicht etwas Traubensaft drauf. Ein Blick durch das Zuckermessgerät erfreut ihn sichtlich: „98 Oechsle, da kann man zufrieden sein“, meint er.

„Wein mit 14 Volumenprozent Alkohol will keiner trinken“

Was da so an hohen Oechslegraden in der ganzen Region verkündet wird, das hält Horst Klingler in seinem Weinlabor in Waiblingen-Neustadt für eines der ganz großen Probleme bei der Weinlese in diesem Jahr. „Selbst die Tübinger haben an die 100 Oechsle“, sagt er – und das wolle etwas heißen. Denn dort sei die Leseausbeute in der Regel eher für stramme Säure, denn für allzu hohe Mostgewichte bekannt. Das Problem aus Sicht des Weinanalysten: „Jetzt laufen die Mostgewichte davon.“ Was den altgedienten Wengerter beim Blick auf sein Refraktometer freut, kann nämlich schlichtweg Gift sein für kundentaugliche Weine. „Beim Spätburgunder haben wir zurzeit Mostgewichte von 105 bis 110 Grad Oechsle.“ Ein Wert, der zu einem entsprechend hohen Alkoholanteil führt – „aber einen solchen Wein mit 14 Volumenprozent, den will keiner trinken“, sagt Klingler. Beim 2018er-Jahrgang drohten Alkoholbomben.

Der Grund für die Misere, die alle trifft, die nicht rechtzeitig mit der Lese begonnen sondern nach hohen Oechslegraden geschielt haben, ist die frühe Reife. Es sei abzusehen gewesen, dass die Trauben heuer deutlich früher reif würden als sonst, sagt Klingler. Ein Umstand, der dazu geführt hat, dass die ersten Wengerter bereits am 23. August mit ihrer Hauptlese begonnen haben. Das habe in der Region Stuttgart bei einigen wenigen Weingüter gut geklappt. Andere hätten ihn ob seiner Warnung nur belächelt und stünden jetzt unter Zeitdruck. „Vor allem die Genossenschaften haben den Startschuss verschlafen.“ Wer sich nach wie vor über exorbitante Mostgewichte freue, der werde bald mit alkoholischem Übergewicht zu kämpfen haben.

In dieser Hinsicht sei die Lage im Unterland Richtung Heilbronn noch dramatischer, sagt der Mann, der für Weinmacher aus ganz Baden und Württemberg den Grapescan – die Untersuchung des Saftes nach rund einem Dutzend Parametern – und anderes erledigt. Während man im Remstal, in Stuttgart oder bei Großbottwar bereits in den letzten Lesezüge liege, sei dort mehrheitlich gerade mal Halbzeit, meint Klingler und fürchtet für die dortigen Weinmacher größeres weinchemisches Ungemach. Denn zu allem andern drohe nach den kürzlichen Regenfällen auch noch Fäulnis. „Aus meiner Sicht müsste an diesem Freitag die Lese beenden – selbst der Trollinger muss jetzt heim.“

Es braucht Säurezugabe um Weine stabil zu halten

Zumal sich mit fortschreitender Lesezeit noch ein weiteres Problem verschärft: Es fehlt an Säure, um den für die Stabilität der Tropfen nötigen pH-Wert zu erreichen. Deshalb muss – und darf – in diesem Jahr in größerem Maßstab Weinsäure zugesetzt werden. „Die Säure muss einfach rein, damit alles biologisch stabil bleibt“, erklärt Klingler. „Ich habe schon rund zwei Tonnen verkauft, jetzt ist der Markt allerdings ziemlich leer gefegt“, berichtet er. Wird die Säure nicht vor der Gärung und dem dann einsetzenden biologischen Abbau zugesetzt, entstehen unerwünschte flüchtige Säuren – vor allem dem unerfahrenen Hobbywengerter droht statt fruchtigem Aroma ein unangenehmer Essigton.

Bei denen, die früh genug dran waren mit ihrer Lese,erwartet Klingler beim Jahrgang 2018 interessante Weine. „Wir kommen bei den Spätburgundern in Art und Charakter in Richtung Burgund“, sieht er die Tendenz – „aber da sind die Südbadener noch näher dran als wir Württemberger“.

Bei der Lese im Winnender Himmelreich sind bis zum Mittag mehr als 190 Kilo Mädlesweintrauben gelesen. Danach gibt es in der Schutzhütte ein Mittagessen für die Helfer, zu denen auch der frühere Erste Bürgermeister Paul Hug und die ehemaligen Stadträte Ursula Bodamer und Werner Heincke zählen. Von den amtierenden Räten sind unter anderem Marie-Christine Sammet, Erich Pfleiderer und Richard Fischer gekommen.

Kaufen kann man den Mädleswein nicht, der nach dem literarisch berühmt gewordenen Winnender Mädle benannt ist. Dieses hat der Minnesänger Gottfried von Neuffen, der Sohn des Stadtgründers, in seinem Winnenden-Lied verewigt – ein Stück Weltliteratur, das sogar im um das Jahr 1300 entstandenen Codex Manesse, der Manessischen Liederhandschrift, zu finden ist. Der Mädleswein wird nur zu besonderen Anlässen von der Stadt ausgeschenkt oder verschenkt – auch in diesem Jahr mit genießbarem Alkoholanteil.