Die Journalistin Monica Lierhaus hat gesagt, sie würde lieber den Tod in Kauf nehmen als die Folgen ihrer Hirnoperation. Behindertenverbände geißeln sie nun dafür. Das ist anmaßend. Eine Analyse von Katja Bauer

Stuttgart - Wie dankbar muss man für das Leben sein? Darf ein Kranker unglücklicher sein als ein Gesunder? Wie krank ist krank genug? Darf ein Mensch sein Leben hassen, weil er nach einem Schlaganfall halbseitig gelähmt ist? Oder tut er damit demjenigen etwas an, der zudem nicht mehr sprechen kann und Probleme mit dem Gedächtnis hat? Was ist mit Menschen, die scheinbar alles haben, aber sisyphusgleich jeden Tag darum kämpfen, um trotz Depression am Leben zu bleiben? Wie verrechnet man auf dieser Verzweiflungsskala Dinge wie Wohlstand, Liebe, optimale Versorgung? Wie das Gefühl, allen zur Last zu fallen? Und wie entwürdigend sind all diese Fragen?

 

Monica Lierhaus muss sich derzeit dafür kritisieren lassen, dass sie offenbar in den Augen einiger Leute nicht dankbar genug für ihr Leben ist. Grund dafür ist ein Interview, das sie gemeinsam mit ihrer Mutter gegeben hat. Es entwickelte sich folgender Dialog: „Was wäre gewesen, wenn es die OP nicht gegeben hätte?“ Mutter: „Monica ist freiwillig zur Schlachtbank gegangen. Aber ohne OP wäre sie irgendwann tot umgefallen.“ Lierhaus: „Ich glaube, ich würde es nicht mehr machen.“ Mutter: „Du wärst sonst tot.“ Lierhaus: „Egal. Dann wäre mir vieles erspart geblieben.“

Kritiker wenden eine Doppelmoral an

Sofort entsetzten sich Vertreter mehrerer Behindertenverbände. Ein gewaltiges Maß an Empörung ergießt sich nun über die Journalistin. Der Vorsitzende des Allgemeinen Behindertenverbandes, Ilja Seifert, urteilte, Lierhaus versinke in Selbstmitleid und habe bisher für andere Behinderte nichts getan, außer „ihr Schicksal zu vermarkten“.

Lierhaus lag im Koma, musste alles neu lernen, leidet Schmerzen und muss gerade die Trennung von ihrem Lebensgefährten verkraften. Welche Anmaßung liegt in dieser Kritik, erst recht aus dem Munde derer, die sich für Menschen mit Behinderung – wie Lierhaus – einzusetzen haben! Aus Sicht der Kritiker hat die Journalistin das Unsagbare formuliert und damit eine Urangst berührt. Lierhaus stellte angeblich in Frage, ob ein Leben mit Behinderung in jedem Fall lebenswert sei. Das hat sie nicht getan. Sie sprach für niemanden außer für sich, in diesem Moment. Kritiker, die ihr das verwehren wollen, mögen aus dem Motiv handeln, andere Behinderte zu schützen. Aber sie wenden eine Doppelmoral an, die niemandem nutzt, sondern sich als enormer Druck gegen alle Menschen wendet, die behindert oder krank sind oder als Angehörige dieses Leben mitleben.

Viele Betroffene teilen heimlich Lierhaus’ Gedanken

Denn Lierhaus formuliert in Wahrheit nur Gedanken, die vielen, die als Betroffene oder Angehörige ihr Schicksal teilen, nicht fremd sind. Das ist ehrlich. Die Verbandsvertreter vergeben eine Chance. Denn für viele wirkt es vielleicht wie eine Entlastung, dass eine ausspricht, was andere bislang im stillen Kämmerlein mit sich ausmachen müssen: Dankbar sein für das, was bleibt, ist keine moralische Pflicht. Jemanden, weil er behindert ist, des Rechtes zu berauben, unglücklich mit seinem Dasein zu sein, das ist wirklich diskriminierend.

Gegendarstellung

In der „Stuttgarter Zeitung“ vom 22. Juli 2015 ist auf Seite 8 unter der Überschrift „Ein Recht auf Lebensmüdigkeit“ ein Beitrag über Monica Lierhaus erschienen, in dem in Bezug auf meine Person unrichtige Tatsachenbehauptungen verbreitet werden. In dem Artikel werden mir wörtliche Zitate zugeschrieben, die ich nicht getätigt habe.

So heißt es unter anderem: „Sie musste sich beispielsweise von der Geschäftsführerin des baden-württembergischen Verbandes für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderungen, Jutta Pagel-Steidl anhören, ihr gehe es doch ,im Vergleich zu anderen Behinderten gut’“. Unwahr ist, dass ich dies gesagt habe. Wahr ist, dass ich diese Äußerung nie getätigt habe.

Weiter heißt es: „Frau Pagel-Steidl glaubt auch zu wissen, dass Lierhaus ihre Lebenssituation nicht annehme, was ,nach fünf Jahren’, nicht mehr die ,richtige Sichtweise’ sei.“ Unwahr ist, dass ich dies gesagt habe. Wahr ist, dass ich diese Äußerung nie getätigt habe.

Stuttgart, den 28. Juli 2015

Jutta Pagel-Steidl

Frau Pagel-Steidl hat Recht. Die zitierten Äußerungen wurden nicht von ihr getätigt.

Die Redaktion