Helmut Bergthal betreibt seit 35 Jahren sein „Klein Paris“ im 7000-Seelen-Ort Sulgen. Und alle finden es gut: die Frauen, die Männer, die Stadt, die Polizei, die Vereine. Sogar der Pfarrer kann damit leben.

Sulgen - Evelyn stöckelt hinter die Theke. In ihrem sehr knappen Minirock und halb geöffneten Blazer, der ihre üppigen Brüste kaum verhüllt, verteilt sie Brötchen und Berliner. Punkt 14 Uhr tischt sie auf zum Kaffeeklatsch für die Rentner und jene, die sonst nichts zu tun haben. Ein grauhaariger Herr kaut an einer Bratwurst, nippt am ersten Bier. Auf schweren Ledersofas sitzen zwei junge Frauen und unterhalten sich leise auf Spanisch. Maria lackiert sich die Nägel blutrot, die Wolldecke bis zum tiefen Dekolleté hochgezogen. Auf einer Leinwand läuft das RTL-Nachmittagsprogramm, im Hintergrund singt Johnny Cash. Der Chef kommt. Die Mädchen schalten um auf den Pornokanal.

 

Helmut Bergthal ist erst aufgestanden und schreitet jetzt die Treppe herunter, ein Zwei-Meter-Koloss, vier Zentner schwer. Das dauergewellte Haar ist sorgsam gekämmt. Seine nackten Füße stecken in Gesundheitssandalen. Selbst im Winter geht er meist barfuß, ein Markenzeichen wie seine Hawaiihemden, grüne Palmen auf gelbem Grund. Im 7000-Seelen-Ort Sulgen ist er für jeden nur „der Knaller“. Die wenigen Gäste begrüßt der Inhaber persönlich. „Gib dem Mann noch ein Bier von mir“, weist er Evelyn an. Er setzt sich an die Theke, trinkt seinen Frühstückskaffee und genehmigt sich fünf Butterbrezeln.

Keiner weit und breit ist so lange im Rotlichtgeschäft wie der 62-Jährige. „Schönen Gruß vom Opa“, sagen die jüngsten Besucher, gerade volljährig, wenn sie am Wochenende nach der Disco ihren Absacker in seinem Nachtclub trinken. „Berg und Tal trifft sich bei Bergthal“, steht in Schnörkelschrift neben der Bürotür. Fasnachtsmasken, schmunzelnde Hexen, Fratzen hängen an der Wand. In die Bühne ist eine Poledance-Stange geschraubt.

Vor einem nackten Frauen-Torso lehnt eine Holztafel mit den Sulgener Narrenfiguren. Anderswo feiern Karnevalsgruppen ihren Zunftmeisterempfang im katholischen Gemeindehaus, hier im „Klein Paris“. Literweise setzt der „Knaller“ dann süffige Frucht-Bowle an. Seine Animierdamen bedienen in Cowgirl-Kostümen. „Wenn alle zufrieden sind, freut sich Helmut und lacht wie ein großes Baby“, sagt Hans-Peter Marte, Präsident der örtlichen Narrenzunft. „Er ist sehr sozial, ein leidenschaftlicher Gastgeber, aber auch ein echtes Schlitzohr.“ Anstoß an dem Etablissement nehme in der Gemeinde kaum einer.

1976 übernahm er „die Festung“

Schon während seiner Lehre zum Installateur und Heizungsmonteur träumte Bergthal am Wochenende hinter DJ-Pults vom eigenen Lokal. Mit 24 Jahren erfüllte er sich sein Wunsch. 1976 übernahm er „Die Festung“. Aus der verstaubten Bauerngaststätte machte er einen der ersten Pubs im englischen Stil mit fünf verschiedenen Sorten Bier. „Im Gastronomiesektor ist nur erfolgreich, wer etwas macht, was andere nicht machen“, sagt er. Frittiertes Geflügel war sein Garant für ein volles Haus. Für das geheime Brathähnchenrezept vom Vorgänger habe er 30 000 Mark in die Hand genommen. Sein Stolz ist unverhohlen.

Bergthal sehnte sich bald nach jungen Gästen statt Rentnern, rauschenden Festen, schönen Frauen, Tanz. 1981 ergriff der Festungswirt seine zweite Chance. Ein gescheiterter Clubbetreiber bat ihn verzweifelt um Hilfe. Er hatte sich mit den Falschen angelegt, mit Rockern aus Singen einen Nachtclub aufgezogen, wo einst frische Brötchen über die Theke gegangen waren. Der Bäcker schuftete, die Kriminellen sackten das Geld ein. Bergthal hat „das Lumpenpack dann rauskomplimentiert“. Damals wog er 100 Kilogramm weniger, trug den schwarzen Gürtel in Taekwondo, eine Maschine. Er übernahm die Kontrolle und die Table-Dance-Bar. Seitdem brennt in Sulgen jede Nacht das rote Lämpchen bis in die Morgendämmerung.

Ein Nachtclub in der Provinz, hieß es damals, das kann nicht gut gehen. Viele warteten auf einen Fehler. Sie warten noch immer. „Wir werden rund um die Uhr beobachtet. Du musst dich bewähren, Tag für Tag“, sagt Bergthal. Er sei nicht korrupt, nicht organisiert, beteuert er immer wieder. Ein paar Mal hätten sie es probiert, die organisierten Banden. Clubbetreiber aus dem Umland hätten Schutzgeld gefordert. „Wenn man mit Kriminellen arbeitet, ist das ein kurzlebiges Geschäft. Da bin ich der falsche Ansprechpartner.“ Und vielleicht, gesteht er sich ein, sei sein „Klein Paris“ im Industriegebiet, umgeben von einem Möbelhaus, einem Fitnessstudio und Jehovas Zeugen, schlicht eine „zu kleine Klitsche“ und darum uninteressant für die Rockerbanden, die das Rotlichtmilieu ansonsten fest in ihrer Hand haben.

Vier der wechselnden Tänzerinnen leben in einer Wohnung im Haus, darüber der Chef selbst mit seiner Lebensgefährtin und dem Rottweiler Rambo. Zimmer, in denen sich Gäste mit den Frauen zurückziehen könnten, gibt es im „Klein Paris“ nicht. Das wäre dann offiziell Prostitution, und dafür ist die Kreisstadt Schramberg mit ihren 21 000 Einwohnern zu klein. So besagt es die Verordnung der Landesregierung von 1976. Bewirbt sich eine Frau mit einem Zuhälter im Hintergrund, stellt Bergthal sie nicht ein. „Ich würde nie arbeiten wie die im Bordell. Da werden Frauen vermarktet wie ein Stück Vieh.“ Hin und wieder torkeln Besoffene in das „Klein-Paris“, lallen: „Wo sind die Nutten?“ – „Man sagt Grüß Gott, wenn man in einen Laden kommt“, entgegnet Bergthal dann.

Ein Sparschwein für den Weißen Ring

An der Theke steht ein dickes Sparschwein. Sammeln für den Weißen Ring. Gerd Schneckenburger leitet die Außendienststelle Rottweil und war vor der ersten Scheckübergabe unsicher. Eine Spende für Kriminalitäts- und Gewaltopfer von einem „Etablissement“? Er informierte sich bei der Schramberger Polizei, besuchte die Bar am „Rentnernachmittag“ und ist seitdem überzeugt, „dass hier keine Gesetzesverstöße oder strafbare Handlungen stattfinden“. Helmut Bergthal wolle sich für andere engagieren, sagt er. „Ohne Hintergedanken“, schiebt er nach.

Um 22 Uhr beginnt Cindys Schicht. Seit 1998 lebt die Tschechin in Deutschland. Ein Polizist hat sie aus dem Stuttgarter Milieu in das Schwarzwaldstädtchen vermittelt. Einen Monat wollte sie bleiben. Das war vor fast 16 Jahren. „Hier arbeitet man nicht nur, hier ist wie Familie“, sagt die 36-Jährige und zieht an ihrer Zigarette. „In der Großstadt kommt Mensch, geht, interessiert niemanden.“ Helmut lege Wert auf jeden. Er führt die Frauen aus – zum Andrea-Berg-Konzert, zum Margarethenfest in Rottweil, zum Schlachtplatten-Essen.

Die Fußball-Herren haben ihren Aufstieg im Club begossen, und Wochen später hat der Wirt auch die Damen-Mannschaft eingeladen. 1000 Euro spendete Bergthal der Stadtmusik. „Der Knaller ist ein sehr gewichtiger Mosaikstein in unserem Gemeindeleben“, sagt der Narrenpräsident Hans-Peter Marte. „Was der Eiffelturm für Paris, das ist Helmut für Sulgen.“ Zum 60. Geburtstag verlieh die Zunft ihrem Fördermitglied den Titel des Obernarren.

Seit zwölf Stunden brennt das rote Lämpchen über der Bar. Vor der Tür leuchtet der Eiffelturm. Es ist zwei Uhr nachts und kein Gast weit und breit. Unter der Woche ist nicht viel los. Die Mädchen sitzen wartend auf dem Sofa, plaudern, lachen, starren auf die Leinwand. 70 Prozent des Umsatzes macht das „Klein Paris“ in den letzten Stunden vor Ladenschluss, wenn die Dunkelheit in die Morgenröte übergeht. Die meisten Gäste kommen spät, nach der Disco oder der Nachtschicht. Die Industrie in der Region mit der Schramberger Uhrenfabrik Junghans oder dem Waffenproduzent Heckler & Koch in Oberndorf blüht. Die Hotels sind voll mit Geschäftsreisenden. Wenige solvente Kunden seien oft besser als Gruppen von Biertrinkern, sagt Bergthal. „Wichtig ist, dass es immer noch genügend Leute gibt, die in dem Geschäft gut Geld ausgeben.“

„Rein – Raus“ steht auf dem Fußabtreter

„Rein – Raus“ steht auf dem Fußabtreter. Ein Mann stolpert über die Schwelle. Alle fünf Frauen bestürmen ihn, begrüßen den Stammgast mit Küsschen. „Er ist die Nummer eins, der King, der König von uns allen. Schatzele hinten, Schatzele vorne. Das hört er daheim nie“, sagt Bergthal und spendiert ihm ein Bier. „Deswegen gibt er Geld aus. Wir haben für jeden die richtige Medizin. Aber das kostet.“ Der Preis für Champagner beginnt bei 160 Euro. 1000 sind es für die teuerste Flasche. „Im Bordell in Villingen kriegt man eine Frau für 30 Euro“, sagt Bergthal. „Bei uns koscht halt eine Flasche Champagner im Séparée 250. Da diskutiert der Gast nicht lang. Das zahlt der für die Stunde und fertig.“

Doch erst mal zahlt der einzige Kunde nicht, sondern zockt am Spielautomat, wechselt dann an den Tresen. „Auf dem Hotelzimmer war tote Hose.“ Torsten ist verheiratet, „einen Tag älter als gestern“ und „ein stiller Genießer“. Er erzählt vom Thailand-Urlaub, von seiner Arbeit im Außendienst. Ein Werbebanner in Schramberg – 30 Jahre Klein-Paris – hat ihn vor drei Jahren das erste Mal in den Nachtclub geführt. Der Slogan: Wer uns findet, findet uns super! Acht Pils kippt er runter, und sechs Piccolo, Gesamtwert 360 Euro, schwatzen ihm die Frauen mit Augenaufschlag ab. Torsten ist großzügig – und bekommt im Gegenzug warme Worte und ungeteilte Aufmerksamkeit.

„Alles familiär, nette Mädchen hier. Keiner geht mir auf den Sack.“ Torsten gönnt sich einen Tanz. Chantal gleitet an der Stange entlang, räkelt sich auf dem Boden, reibt ihren Po an ihm. „Wenn hier mehrere Kerle sitzen, dann geht’s ab. Aber ohne Moos nichts los“, raunt er und schiebt zwei Strip-Dollar zwischen die vor seinen Augen wippenden Brüste. Bergthal nimmt einen Sektkühler. Er habe eine Überraschung, feixt er und lacht. Fünf Zettel, fünf Namen, fünf Frauen: Das Los entscheidet, wer Torsten heute hinter den schweren Samtvorhang ins Séparée begleitet. Was die Mädchen dort mit ihm machen, wie weit sie mit den Gästen gehen, das ist ihre Sache. „Von mir aus können sie auch würfeln oder Karten spielen“, sagt Helmut Bergthal.

„Der Landkreis muss sauber bleiben“, sagt der Knaller

Bald will er den Ruhestand genießen. Einen Nachfolger hat Helmut Bergthal noch nicht. „Wenn der nicht in meinem Namen und so seriös schafft wie ich, haben wir ein richtiges Problem.“ Schon vor Jahren wollte er sich zurückziehen. Er ließ sich zum Versicherungs- und Immobilienmakler ausbilden. „Ich musste was anderes machen, damit ich nicht verblöde, mal Abstand nehmen.“ Knapp zehn Jahre verpachtete er. Im Nachhinein sein größter Fehler. Die Miete kam in den ersten Monaten noch, dann nicht mehr. Rocker seien ein- und ausgegangen und mit ihnen Drogen.

„Alle vier Pächter waren hochgradig kriminell, Verbrecher. Keine Tür war am Ende mehr ganz, alles durchschossen. Ich hab einen Haufen Geld verloren“, schimpft Bergthal. Er hatte die Wahl: schließen oder selbst übernehmen. Immer wieder kam „zwielichtiges Lumpenpack“ wegen Schulden des Vorgängers. „Das ging vier Wochen, dann war Ruhe. Wie abgeschnitten.“ Seit 18 Jahren ist er wieder der Boss.

Bergthal sieht sich als den heimlichen Schützer Schrambergs. Er ballt die Faust. „Der Landkreis muss sauber bleiben.“ Und die Polizei kann nicht klagen. „Seit Herr Bergthal da oben ist, gab es dort keinerlei Vorkommnisse“, sagt der Schramberger Revierleiter Erich Moosmann. „Keinerlei Beanstandungen“, sagt auch der Leiter des Fachbereichs Recht und Sicherheit. Aufgrund guter Führung gilt für Bergthal nicht mal die offizielle Sperrstunde.

Solange keine offizielle Prostitution stattfinde, kann selbst der katholische Pfarrer, Eberhard Eisele, mit der Nachtbar leben. „Aber mir sind die Damen zu leicht bekleidet, deswegen bin ich selbst nie dort.“

Bergthal öffnet noch ein Bier. Im Séparée wird der Notknopf gedrückt. Es schrillt, die Lampe hinter der Theke leuchtet auf. „Alles okay!“, rufen Evelyn und Maria kichernd. Nach einer Stunde kommt Torsten zurück an den Tresen, ein letztes Bier. „Ende Gelände. Aus die Maus. Wer fährt mich jetzt ins Hotel?“ Von seiner Kreditkarte werden 860 Euro abgebucht.