Die zweite Gattin Heinrichs VIII. sorgt auf der Insel für Aufsehen: Ein Forscher will endlich herausgefunden haben, wie die berühmte Königin wirklich ausgesehen hat.

Korrespondenten: Peter Nonnenmacher (non)

London - Vor fast 500 Jahren verlor sie im Tower ihr eigenwilliges Köpfchen. Mit einem Schwertstreich wurde ihrem Leben ein jähes Ende gesetzt. Jetzt glauben Forscher, Anne Boleyns Kopf in einem Museum in der nordenglischen Stadt Bradford aufgespürt zu haben. Oder zumindest das einzige authentische Porträtgemälde, das es von der zweiten Gattin Heinrichs VIII. noch geben soll.

 

Der Fund diese Woche verursachte einiges an Aufregung in England. Immerhin hat die traurige Geschichte Boleyns im kollektiven Gedächtnis der Nation bis heute ihren festen Platz. Eine große Donizetti-Oper und eine Reihe berühmter Filme hat ihr Schicksal inspiriert. Maria Callas auf der Bühne und Helena Bonham Carter auf der Leinwand haben Boleyn verkörpert. Zur Zeit erzielt gerade im BBC-Fernsehen die sechsteilige Verfilmung des Hilary-Mantel-Romans „Wolf Hall“ Rekordeinschaltquoten. Die Serie wird in Deutschland auf Arte zu sehen sein. Kurzum: Die Tudors sind wieder „in“ im Königreich.

Als treuloses Frauenzimmer „entlarvt“

Bei so viel Aufmerksamkeit für Anne Boleyn nimmt es nicht wunder, dass sich die Briten fragen, wer denn die „Königin der tausend Tage“ wirklich war – und wie sie ausgesehen haben könnte. Bisher konnte man nämlich nur ein einziges Abbild als verbürgt betrachten. Und zwar ein unscheinbares Bild auf einer kleinen Münze, die ein Jahr nach Anne Boleyns Hochzeit zu ihren Ehren geprägt wurde: das vom Britischen Museum verwahrte sogenannte „Moost-Happi“-Medaillon. Andere zeitgenössische Bildnisse sind wohl zerstört worden, nachdem Boleyn als treuloses Frauenzimmer „entlarvt“ worden war. Nichts sollte an sie erinnern, nichts von ihr bleiben.

Annes Tochter Elizabeth, die Jahre später selbst zur Monarchin aufsteigen sollte, wurde 1536 – nach dem Richtspruch über ihre Mutter – enterbt und zum Bastard erklärt. Hier und da tauchten später zwar Porträts auf, in deren Zügen man diejenigen Anne Boleyns zu erkennen glaubte . In der Londoner Nationalgalerie hängt eines davon. Aber Amit Roy Chowdhury, der Leiter des Instituts für Videoforschung an der Universität Kalifornien, ist nun zum Schluss gekommen, dass die Nationalgalerie irrt und es sich bei einem ganz anderen Gemälde um ein authentisches Boleyn-Porträt handelt.

Die Videoüberwachung macht’s möglich

Das sogenannte Nidd-Hall-Porträt in Bradford soll Annes wahres Abbild sein. Das hat dem US-Forscher sein Computer geflüstert. Der Rechner wiederum weiß das dank einer in den vergangenen Jahren entwickelten Technologie zur Aufdeckung von Merkmalsüberschneidungen. Die Methode sollte ursprünglich der Polizei helfen, Fahndungsfotos mit Aufnahmen zu vergleichen, die von Überwachungskameras gemacht wurden. Doch Chowdhury zweckentfremdete die Software und stellte sie in den Dienst der Kunstgeschichte.

Die Software ist in der Lage, Augenabstand, Mundweite, Nasenbreite, Linie der Brauen und andere anatomische Merkmale bei einem Bildervergleich zu berücksichtigen. Selbst künstlerische Eigenheiten können einberechnet werden. Allzu viel an Datenmaterial hatte Chowdhury natürlich nicht für seine Kalkulationen: nur eben die kleine Bleimünze von 1534. Dennoch ist der Forscher überzeugt, das richtige Porträt ermittelt zu haben.

„Dank Videoüberwachung hat Anne Boleyn ihren Kopf jetzt wieder“, jubelte diese Woche ein Londoner Blatt. Wer die Königin im Original sehen will, muss nun also nach Bradford pilgern. In der Londoner Nationalgalerie hängt dafür womöglich, mit Boleyns Schmuck um den Hals, Jane Seymour. Sie war eine Hofdame Anne Boleyns und die nächste Favoritin Heinrichs VIII. – die Frau also, die der König elf Tage nach der Hinrichtung Annes zu seiner dritten Gemahlin nahm.