In dem Wohnprojekt „Fabrik Heslach“ leben rund 25 Menschen zusammen unter einem Dach, aufgeteilt auf mehrere Wohnungen. Entscheidungen werden in dem Haus basisdemokratisch getroffen, aber jeder hat natürlich auch das Recht sein eigenes Leben zu leben.

Psychologie/Partnerschaft: Nina Ayerle (nay)

S-Süd - Allein in einer Wohnung zu leben, das kann sich die 19-jährige Sophie Bergemann nicht vorstellen. „Das wäre grauenhaft.“ Gerade hat sie in Stuttgart ihr Abitur gemacht, derzeit kellnert sie. Irgendwann möchte sie studieren, vielleicht in einem, vielleicht in zwei Jahren. „Ich kann mir auch gut vorstellen, hier in Stuttgart zu bleiben“, sagt Bergemann. Einerseits hängt die junge Frau an ihrer schwäbischen Heimatstadt, andererseits hängt sie vor allem an ihrem Zuhause dort. Seit sie ein Jahr alt ist, lebt sie mit ihren Eltern und ihrer älteren Schwester an der Mörikestraße 69 – in einem Hausprojekt gemeinsam mit 20 bis 25 anderen Menschen.

 

Das Wohnprojekt existiert seit 30 Jahren

Seit rund 30 Jahren existiert das besondere Wohnprojekt in Heslach. Das Gebäude gehörte einst der Stuttgarter Telegraphendraht- und Kabelfabrik A. Kreidler, aus der später die bekannte Kreidler Leichtkraftrad-Fabrik wurde. Diese wurde 1889 in Heslach gegründet. 1904 zog die Firma nach Kornwestheim. Das Grundstück mit den beiden Gebäuden – die Außenfassade ist noch im Original erhalten – ging irgendwann in den Besitz der Stadt über. Lange stand das Haus leer und wurde deshalb von Hausbesetzern in Beschlag genommen, die ihre alternativen Lebensformen umsetzen wollten. Nach längeren Verhandlungen überließ die Landeshauptstadt die Gebäude dem damaligen Verein „Neues Leben in alten Mauern“. „Es wurde dann alles selbst renoviert“, sagt Sophie Bergemann.

Anfang diesen Jahres haben die derzeitigen Bewohner nun den Verein „Fabrik Heslach“ gegründet. Der Name hat sich geändert, das Wohnmodell ist geblieben. Mehrere Generationen leben gemeinsam unter einem Dach in einer Art großen Wohngemeinschaft mit eigenen Wohnungen. Der Verein ist Stifter; inzwischen ist das Haus seit 19 Jahren im Besitz der Stiftung mit einem 15-köpfigem Kuratorium. Die meisten Mitglieder wohnen längst nicht mehr dort. „Es setzt sich aus Bewohnern und Nicht-Bewohnern zusammen“, sagt Sophie Bergemann. Selbstverständlich zahlen alle Miete. „Wir nennen uns trotzdem Bewohner und nicht Mieter“, ergänzt Irina Bohn, die seit zehn Jahren dort lebt und damit zur mittleren Generationen des Hausprojektes gehört.

Der älteste Bewohner der Fabrik Heslach ist um die 60 Jahre, der Jüngste neun Monate alt. Vereinigt sind zudem verschiedene Lebensformen unter einem Dach: Familien, Familien mit WG, nur WG, Untermieter, aber auch eine Senioren-Single-Wohnung.

Luxusleben auf 200 Quadratmeter gibt es nicht

Acht Wohnungen sind in dem Haus. Jede Partei lebt autonom, doch was im Haus passiert, wird gemeinsam in den monatlichen Haussitzungen entschieden. „Jede Wohnung entscheidet auch, wer dort einzieht“, sagt Bohn. Die größeren Wohnungen sind von Familien bewohnt, die haben aber meistens noch wechselnde Untermieter. Denn das Hausprojekt fördert den sozialen Wohnungsgedanken. „Es entspricht nicht unseren Vorstellungen, dass es sich zum Beispiel zwei Leute auf 200 Quadratmeter gut gehen lassen“, sagt Irina Bohn.

Agnes Obenhuber teilt sich ihre Wohnung mit fünf anderen. Sie lebt in der einzigen reinen WG im Haus. Vor knapp dreieinhalb Jahren kam die 30-Jährige berufsbedingt nach Stuttgart; über Freunde ist sie zur Fabrik Heslach gekommen. Ihre Mitbewohner sind zwischen 26 und 43 Jahren, sie studieren oder sind berufstätig.

Auch Irina Bohn ist vor elf Jahren zunächst in diese Wohngemeinschaft eingezogen. Inzwischen lebt sie mit ihrem Freund und ihren drei Kindern in einer eigenen Wohnung im Haus. „Mir gefällt das Wohnprojekt“, sagt Bohn, die derzeit in Elternzeit ist. Ein anonymes Wohnen in irgendeinem Mehrfamilienhaus kann sie sich nicht vorstellen. „Bei uns kann jeder auch mitgestalten.“ Jeder darf sich an den Aktionen im Haus beteiligen, aber einen Zwang gibt es nicht. „Jeder hat sein eigenes Leben“, sagt Agnes Obenhuber.

Die Bewohner machen auch Veranstaltungen

Die Bewohner organisieren immer wieder gemeinsame Veranstaltungen, zum Beispiel den traditionellen Hof-Flohmarkt im Sommer, kleine Konzerte und politische Veranstaltungen. Dieses Engagement möchten die Vereinsmitglieder – rund der Hälfte der Bewohner ist auch im Verein aktiv – in Zukunft ausbauen. „Wir wollen auch im Stadtteil künftig präsenter sein“, sagt Agnes Obenhuber. „Unsere Wohnform soll bekannter werden und eine Inspiration für andere sein. Gerade in Stuttgart, wo die Mietpreise hoch sind, ist das eine gute Alternative.“ Obenhuber schätzt die Atmosphäre im Haus, ihre Freunde beneiden sie um ihr Zuhause. „Es sollte in Stuttgart mehr solche Projekte geben.“

Ein Recht auf Intimsphäre hat jeder. Zwar stehen viele Türen offen, doch jeder darf sich auch zurückziehen. „Ein selbstverwaltetes Haus bedeutet Arbeit, und jeder hat auch mal andere Dinge im Kopf“, sagt Bohn. Und natürlich gebe es trotz aller Harmonie auch mal Reibereien. Dennoch – raus will fast niemand mehr. Selten werden Wohnungen in der Fabrik Heslach frei. Eher wird untereinander umverteilt.

Das Zusammenleben schätzen die Bewohner, man sei nie alleine. Auch Sophie will – sofern sie irgendwann auszieht – auf jeden Fall in eine WG ziehen oder selbst ein Wohnprojekt ins Leben rufen. Vor allem für Kinder sei so ein Leben toll. „Ich habe früher quasi in drei Wohnungen gleichzeitig gewohnt“, erzählt die 19-Jährige. Mit ihrem besten Freund, der natürlich auch in der Fabrik Heslach wohnt, sei sie teilweise Tag und Nacht zusammen gewesen. „Die Menschen, die hier wohnen, sind einfach alle so offen“, schwärmt sie.