Am 15. August 1972 verwüstet ein Starkgewitter die Landeshauptstadt: Tennisballgroße Hagelkörner gehen über Stuttgart nieder, Sturmböen fegen durch die Straßen, Dächer werden abgedeckt. Das Unwetter hatte katastrophale Folgen.

Stuttgart - Die Menschen klammern sich an ihre Autodächer und suchen irgendwo nach Halt. Unter ihnen bewegen sich die Fahrzeuge in einem schaumigen Cocktail von Eis und Regenwasser wie Korken. Das Eis schwimmt wie eine Krone auf dem Bier. Eine dichte, weiße Masse bis zu 20 Zentimeter dick. Das eiskalte Wasser darunter steigt langsam zur Decke der Unterführung in der Innenstadt hin an. Dieter Jarausch steuert ein Schlauchboot mit einem Paddel durch das Gemisch von Hagelkörnern und Regen. Das Schlauchboot bewegt sich auf die Menschen zu, die auf ihren Autos sitzen und um Hilfe rufen. Viele haben das Autodachfenster aufgekurbelt und sich selbst nach oben gezogen, als die Flut in die Unterführung strömt. Jetzt klettern sie mit Hilfe des jungen Feuerwehrreferendars in das Gummiboot. „In dem Moment wussten wir nicht, ob und wie viele es nicht geschafft haben und in den Autos stecken geblieben sind. Wir haben damals mit Toten gerechnet“, erinnert sich Jarausch, mittlerweile im Ruhestand, mit 40 Jahren Abstand zum Geschehen. Die Feuerwehr habe zunächst die Taucher nicht einsetzen können: „Der Einsatzwagen mit dem ganzen Gerät war im Regen selbst abgesoffen.“

 

An diesem 15. August 1972 ist Jarausch ein junger Feuerwehrmann, der aus Berlin gekommen ist, um in Stuttgart den praktischen Teil seiner Ausbildung für den höheren Dienst bei der Berufsfeuerwehr abzuleisten. Zur Begrüßung hieß es, Stuttgart sei ein ruhiges Einsatzgebiet. „Daran musste ich denken, als wir in der Unterführung die Menschen retteten“, erinnert er sich.

Gespenstisch verfärbter Himmel

Zwei Stunden vor dem Unwetter fuhr er mit einem Vorgesetzten durch die Stadt mit ihren vielen Unterführungen und Tunnels. Der Himmel hatte sich kurz nach drei Uhr über der ganzen Stadt gespenstisch verfärbt. „Es war eher gelblich als dunkel“, so Jarausch. Als er mit den Kollegen durch einen Tunnel fuhr, erinnerte er sich an eine Unterführung in Berlin. Sie stand bei heftigen Gewittern regelmäßig unter Wasser. Ob dies auch manchmal in Stuttgart passiere, wollte er von den Kollegen wissen. „Wir sind hier nicht in Berlin. Wir haben moderne Pumpen“, lautete die Antwort. Als die Feuerwehrleute den Tunnel verließen, regnete und hagelte es bereits so stark, dass ein Kamerad mit Helm sich aus dem Fenster lehnte, um dem Fahrer den Weg zu weisen. „Durch die Autoscheibe war überhaupt nichts mehr zu sehen.“

Was war passiert? Die Meteorologen hatten für den 15-minütigen Hagelschauer vom 15. August 1972 einen nüchternen Namen: Starkgewitter. Der Leiter des Regionalen Klimabüros des Deutschen Wetterdienstes in Freiburg, Jochen Bläsing, verweist auf die Statistik. Alle fünfzig bis hundert Jahre müssten Stuttgarter demnach mit einem solchen Wetterereignis rechnen. Eine Viertelstunde lang bombardiert eine kilometerbreite Hagelfront die Großstadt mit bis zu tennisballgroßen Eisklumpen. Sturmböen fegen durch die Straßenschluchten, decken Dächer ab und zerlegen Hausfassaden. Bäume werden umgeworfen und liegen in den Straßen. Doch nichts kommt der verheerenden Wirkung des dichten Schauers von Hagelgeschossen gleich. Ihre Größe war erstaunlich, ihre Masse höchst gefährlich.

Wasser der Sintflut

In der Hasenstraße will ein Rentner die Fenster in seinem Keller schließen. Das Wasser der Sintflut soll nicht in das Gebäude eindringen. Doch nicht Wasser, sondern Eis kommt dem Mann entgegen: Hagelkörner zertrümmern die Fenster, strömen in den Keller und werfen den Mann zu Boden. Er erstickt unter den dichten Eismassen, die ihn unter sich begraben.

An der Böblinger Straße kämpfen drei Männer ums Überleben. Die Mitarbeiter der Firma Imperial arbeiten im Keller, als das Unwetter losbricht. In rasender Geschwindigkeit füllen sich alle Luftschächte mit Hagel. Einer der Schächte bricht unter dem Gewicht des gefrorenen Wassers zusammen, das Hochwasser von der Straße ergießt sich als Flutwelle in den Raum. Bald steht es bis knapp unter der Decke. Den Männern bleibt kein Fluchtweg, da der Wasserdruck verhindert, dass sich die Tür öffnen lässt. Sie ertrinken.

Sechs Menschen sterben in der dramatischen Viertelstunde des Unglücks. Nicht nur der Hagel tötet. Im Stuttgarter Osten wird eine Frau von einem Sturzbach mitgerissen, der sich über die Klingenstraße wälzt. Sie bleibt an einem Auto hängen, das der Mahlstrom in Bewegung gesetzt hat und wird ganz vom Wasser bedeckt. Ein 72-Jähriger stirbt an der Sodener Straße, als in seiner Nähe ein Blitz einschlägt.

Der Tag nach der Katastrophe

Am Tag nach der Katastrophe hängt dichter Dunst über der Stadt. Das besonders stark betroffene Heslach liegt unter einer Nebeldecke, als wäre es November und nicht August. In den Straßen verdampfen Tonnen von Eis, die sich zum Teil mannshoch aufgetürmt haben. Die Menschen betrachten die Überbleibsel der Naturgewalt. „Wer das nicht erlebt hat, kann es sich nicht vorstellen“, sagt ein Mann aus Heslach der Stuttgarter Zeitung. Später wird von einem Sachschaden in Höhe von Hunderten Millionen Mark die Rede sein.

Auch das Gottvertrauen vieler Menschen ist erschüttert. Trotz aller schwäbischer Sorgfalt reichte ein Gewitter aus, um die Landeshauptstadt im Chaos versinken zu lassen. Die Pumpen etwa, die unterhalb des Charlottenplatzes bei Regen Wasser absaugen sollten, versagten, weil der Hagel die Abflüsse verstopft hatte. Die Einsatzkräfte mussten von außerhalb verstärkt werden, um Herr der Lage zu werden.

Wenigstens trockene Socken

Dieter Jarausch hatte in den Tagen nach dem Unglück keine Gelegenheit, in seiner eigenen Wohnung nach Schäden zu sehen. Wie viele andere Feuerwehrmänner war er rund um die Uhr im Einsatz. Anders als 500 Männer der Feuerwehr, 250 Polizisten und zahlreichen Helfern der Rettungsdienste war er allerdings nicht auf den Straßen unterwegs. Er saß im Krisenstab, der damals der Stuttgarter Polizei unterstand.

Im Stuttgarter Rathaus verbrachte er noch den ganzen 15. August mit durchnässter Kleidung. „Erst am Tag danach kam ein Mitarbeiter und hat mir Socken in die Hand gedrückt. Dann waren wenigstens mal meine Füße trocken.“ Jarausch beschreibt heute die Stimmung der Rettungskräfte bei aller Betroffenheit als eher gelassen. „Viele haben ja die Bombennächte im Zweiten Weltkrieg noch miterlebt. Das waren harte Kerle“, sagt er. Viele Stuttgarter hätten 1972 noch der Kriegsgeneration angehört, sagt Jarausch. Für ihn ist das Grund, warum selbst die Eingeschlossenen selten in Panik geraten sind. „Die haben im Katastrophenfall gewusst, dass sie da einfach durch müssen.“