Die Ärzteschaft ist gespalten. Eine Minderheit kämpft mit dem Lobbyverein Mezis für eine größere Distanz zur Pharmaindustrie. Die Mehrheit aber sieht keinen Reformbedarf – auf Visite in Kassel und Stuttgart.

Kassel - Da prallen Welten aufeinander. Im Schlosshotel unterm Herkules von Kassel-Wilhelmshöhe hat der Konzern Bristol-Myers Squibb am Samstag zur Tagung „Rheuma im Dialog“ eingeladen – 18 Ärzte aus ganz Deutschland sind da, um sich fortzubilden in einer „exquisiten Eventlocation“ – dicke Teppiche, weißes Tischtuch und exzellentes Büfett, im kulinarischen Kalender des Vier-Sterne-Hotels für März stehen „Spezialitäten aus Nordhessen“. Wenige Hundert Meter talabwärts hält der Ärzteverein „Mein Essen zahl ich selbst“ (Mezis) in der Orthopädischen Klinik seine Jahresversammlung: Wurstbrötchen und Gulaschsuppe stammen aus der Krankenhausküche, Körbe sind aufgestellt für Spenden. Ein Kugelschreiber von Mezis kostet 1,50 Euro, ein Plakat fürs Wartezimmer („Lieber Patient, hier bekommen Sie keine Rezepte der Pharmaindustrie“) acht Euro.

 

Es tagen die Spartaner der deutschen Medizin, aber es sind keine vollbärtigen „Ökos“, eher ein Querschnitt der normalen Medizinerschaft: vom Neurologen aus Berlin bis zur Medizinstudentin aus Münster. 37 sind gekommen – fast ein Zehntel der Mitglieder. Die frisch von Mezis eingestellte Geschäftsführerin und Ärztin Christiane Fischer feiert das als Erfolg. Ebenso wie die Tatsache, dass sich die Spendenkörbe gut füllen mit Zehn-Euro-Noten: „Unglaublich, dass Ärzte für ihre Kulis mal selber zahlen“, sagt Fischer und grinst dabei.

Ginge es nach ihr, die Mitglied des Deutschen Ethikrates ist, würde sich die Ärzteschaft auch selbst um die Bezahlung ihrer Fortbildung kümmern. „Lehrer und Pfarrer zahlen auch für ihre Weiterbildung – warum nicht die Ärzte“, fragt Fischer. Kongresse sollten nicht von der Industrie gesponsert werden, und Pharmareferenten – in Kassel bezeichnet einer sie als „Schattenarmee“ – solle man die Tür weisen. Hinter all dem steht ein Grundanliegen, das die in Nordrach im Badischen aufgewachsene Fischer – von dort stammt die erste promovierte Ärztin der Kaiserzeit! – so beschreibt: Die Medizin müsse von der Idee geleitet sein, den Mensch „bestmöglich zu heilen“ und nicht den Profit zu mehren – etwa den der Arzneimittelindustrie, die 15 000 Pharmareferenten ausschwärmen lässt und in Deutschland laut Schätzungen 2,5 Milliarden Euro jährlich für Marketing ausgibt.

Schockstarre seit dem Urteil

Bei Mezis debattiert eine Arbeitsgruppe über die „Strategie“ des Vereins, die andere über das spektakuläre BGH-Urteil vom Sommer 2012, das die Bestechlichkeit von niedergelassenen Ärzten durch die Annahme von Vorteilen als nicht strafbewehrt einschätzt, „da sie weder Amtsträger sind (. . .) noch als Beauftragter der Krankenkassen handeln“. Die Richter legten damit einen feinen Unterschied zu angestellten Krankenhausärzten fest; die sind in Sachen Korruption schneller dran. Seit dem Urteil verharrt die gesundheitspolitische Szene in einer Schockstarre: das Lager der Krankenkassen verlangt das Annehmen von Geschenken durch niedergelassene Ärzte unter Strafrecht zu stellen – im Schulterschluss mit Mezis. Die Bundesärztekammer empört sich über eine „Verleumdungskampagne“, und die Politik wartet ab.



Aber auch die Weste der „Moralisten“ von Mezis ist nicht blütenrein: Er habe den Besuch von Pharmavertretern untersagt, sagt etwa der Hausarzt Niko Koneczny aus Herdecke. Da er in einer Gemeinschaftspraxis arbeitet, müsse er sich nun „schräge Kommentare“ von Pharmareferenten anhören, die seine Kollegin besuchen: „Ich darf Sie ja eigentlich gar nicht sehen“, habe neulich ein Vertreter beim Abliefern von Arzneimittelproben geblökt, „aber ich weiß ja, dass Sie sich bei Ihrer Kollegin bedienen.“ Koneczny fand das unverschämt. Andererseits, sagt der Hausarzt, könne er sich dem System nicht ganz entziehen, denn die Fortbildungen der Pharmaindustrie seien so gut, dass er die auch besuche: „Ich esse da umsonst, spende aber den Gegenwert von 30 oder 40 Euro an Unicef.“ Die Pharmaindustrie ist stark in der Fortbildung, die den Ärzten vorgeschrieben wird, damit sie ihre Zulassung behalten. Da erzählt ein Kinderarzt aus Marburg, dass zu einer „neutralen“ Fortbildung des hessischen Verbandes der Kinderärzte nur 60 Leute gekommen seien, eine Fortbildung der Firma Infectopharm im Maritim in Köln habe indes 1500 Ärzte angelockt – die habe „ein fachlich sehr guter Anbieter gemacht“.

Aber die sauberen Ärzte sehen Fortschritte. Als Held gefeiert wird der Chefarzt Thomas Lempert aus Berlin, der die Deutsche Gesellschaft für Neurologie offiziell aufgefordert hat, bei der Erstellung ihrer Leitlinien für die Behandlung von Patienten Leute auszuschließen, „die die Industrie beraten oder Studien mit ihr betreiben“. Es gehe doch nicht an, sagt Lempert, „dass Wissenschaftler ihre eigene Arbeit evaluieren“. Die Reaktion, so der Neurologe, habe Reformbemühungen erkennen lassen, er sei „nicht nur auf Beton“ gestoßen. Und als positives Signal wird vermerkt, dass die Landesärztekammer Niedersachsen den umstrittenen Paragrafen 32 in der Medizinischen Berufsordnung („Unerlaubte Zuwendungen“), der 2011 verwässert worden war und niedergelassenen Ärzten sehr viel erlaubt, kurzerhand gestrichen hat.

Das Schwert des Berufsrechts ist da, aber es sei stumpf, sagen die Mezis-Leute. Bei der Landesärztekammer Baden-Württemberg heißt es, dass in den letzten fünf Jahren 46 Verfahren gegen das Zuwendungsverbot geführt wurden – bei 60 000 Ärzten in diesem Land. Es ging meist um Honorare an Ärzte, damit sie Laboren Aufträge von Privatpatienten zuschustern – medizinisch unbegründet. Die Geldstrafen dafür reichten von 500 bis 30 000 Euro.

Das Schwert des Berufsrechts ist stumpf

Trotz ihrer Mission sind die Mezis-Jünger nicht selbstzufrieden. Vor allem der Untertitel ihres Vereinsnamens behagt ihnen nicht: „Initiative unbestechlicher Ärztinnen und Ärzte“, das sei „nicht optimal“, heißt es, das grenze die anderen aus.

Ja, die anderen, der große Rest. 350 000 berufstätige Ärzte gibt es in Deutschland. Einer von ihnen ist Suso Lederle, der in bester Citylage von Stuttgart eine Praxis betreibt: moderne Kunst, gläserne Büros, er ist ein gut situierter Arzt, zurückgelehnt, furchtlos und gelassen. Es ist sein freier Mittwochnachmittag, und Lederle packt ein bisschen aus: Ja, er könne sich an die von der Industrie gesponserten Fortbildungsreisen nach Mallorca, Paris und London in den 90ern erinnern. In Mallorca ging es um Bluthochdruck, und man habe da zwei freie Nachmittage gehabt. Aber die Zeiten seien vorbei, auch die Schenkerei sei eingedämmt, ein Kuli, ein Briefbeschwerer, wer lasse sich dadurch beeinflussen?



Lederle hat als junger Arzt mal einen Notfallkoffer geschenkt bekommen, Wert 300 DM, „den habe ich heute noch“. Aber er hält sich nicht für korrumpierbar, frei in seiner Entscheidung: „Ich hätte nichts dagegen, wenn wir Niedergelassenen in puncto Bestechlichkeit mit Klinikärzten gleichgestellt werden.“ Kritisch sieht er die Anwendungsbeobachtungen, bei denen Ärzte ein Medikament in der Praxis testen – für ein Entgelt und „für den Papierkorb“. Aber Lederle nutzt selbst, was er als „neues Marketinginstrument“ der Pharmaindustrie bezeichnet: die Einladung zu „Beratungsgesprächen“, ein Austausch von zehn oder 20 Kollegen zu bestimmten Themen: „Da gehe ich hin.“ Und wenn er sich für eine Fortbildung ein Wochenende um die Ohren schlage, sagt Lederle, „möchte ich ein belegtes Brötchen essen dürfen“.

Selbst Ärzteorganisationen wie der Medi-Verbund in Stuttgart, der sich als Alternative zur Kassenärztlichen Vereinigung sieht, rücken leise auf Distanz zur Pharmabranche. Während viele Ärzte von der Industrie über Reklame mitfinanzierte Computerprogramme einsetzen, ist die Software in Medi-Praxen „pharmafrei“. Das sei teurer, sagt Medi-Chef Werner Baumgärtner, aber man wolle die „eigene Systematik“ in den Computern, es gehe um möglichst rabattierte und medizinisch sinnvolle Arzneimittel, um bei gleicher Qualität Kosten für die Kassen einzusparen. Beim Gespräch in Baumgärtners Büro steht ein Tablett mit Brezeln und Gebäck – normale Gastfreundschaft zur Mittagszeit. Ja, sagt Baumgärtner, kein Arzt solle von Pharmareferenten Geldvorteile einstreichen. „Aber es ist lächerlich zu glauben, dass sich ein Arzt heute zum Essen einladen lässt, damit er ein Produkt öfter verschreibt!“