Die Tanzwelt trauert um Richard Cragun, den langjährigen Starsolisten des Stuttgarter Ballets. „Ricky hat ein Stück Ballettgeschichte geschrieben: Als Tänzer wie als Mensch hatte er eine wunderbare kooperative Art“, sagt Rainer Woihsyk, Vorsitzender der Noverre-Gesellschaft.

Stuttgart - Es sind die Erinnerungen, die einen Menschen unsterblich machen. Und an Richard Cragun gibt es unzählige davon – war er doch einer der Protagonisten des Stuttgarter Ballettwunders. Und wer den Tänzer in der Rolle des ungeschliffenen, ja gewalttätigen Kraftprotzes Stanley Kowalski in Tennessee Williams „Endstation Sehnsucht“ – vom Hamburger Ballettchef John Neumeier 1983 genial als Choreografie umgesetzt – gesehen hat, der wird das nie vergessen. Derlei Ausnahmevorstellungen gab der Mann, der am 5. Oktober 1944 im kalifornischen Sacramento geboren wurde, in seiner aktiven Tänzerkarriere viele. Im Gedächtnis verbleiben sein Romeo, Onegin oder Des Grieux in John Neumeiers „Kameliendame“ sowie seine Interpretationen abstrakter Werke etwa in „Vergessenes Land“ von Jiri Kylián oder „Requiem“ von Kenneth MacMillan.

 

Diese Erinnerungen müssen nun tragen: Der seit 1999 in Brasilien lebende Richard Cragun verstarb am Montagmorgen in einer Klinik in Rio de Janeiro im Alter von 67 Jahren an den Folgen einer HIV-Infektion.

Das Ballett trauert

„Mit ihm verliert das Stuttgarter Ballett eines der wichtigsten Mitglieder seiner Familie und die Tanzwelt einen Giganten seiner Kunst“, sagt der Ballettintendant Reid Anderson. „Cragun war mir immer ein sehr großes Vorbild, er hat mir als junger Tänzer sehr geholfen.“ Das Stuttgarter Ballett trauere. Viele Rollen seien für Cragun kreiert worden, die bis heute das Repertoire des Balletts prägten. Dazu gehören Parts in Cranko-Balletten wie „Opus 1“, „Brouillards“, „Poème de l’Extase“, „Spuren“, „Initialen R.B.M.E.“ – und freilich der Petruccio in der Komödie „Der Widerspenstigen Zähmung“.

Wie der sprungstarke Cragun diese Shakespeare-Figur dynamisch-kraftvoll, gleichwohl humorvoll augenzwinkernd interpretierte, das setzte Standards. Diese Rolle habe, so erzählte Cragun häufig, Cranko ihm „geschenkt“, um seine damalige langjährige Partnerin auf der Bühne und im Leben zu „zähmen“: die Primaballerina und spätere Ballettchefin in Stuttgart, Marcia Haydée. Sie sollte später in ihrer Version des „Dornröschens“ die Rolle der androgyn angelegten Fee „Carabosse“ für ihn kreieren. Cragun hatte sich, nachdem die Beziehung mit Haydée auseinanderging, zur Homosexualität bekannt.

„Es ist endgültig“

Haydée habe er denn auch an sein Krankenbett gerufen, heißt es. Als sie dort eintraf, soll er nicht mehr bei Bewusstsein gewesen sein. Aber Vladimir Klos, ehedem Erster Solist beim Stuttgarter Ballett und nun Professor an der Akademie des Tanzes Mannheim, habe ihn noch besucht, bevor er überraschend in die Klinik eingeliefert wurde, erzählt Klos’ Frau Birgit Keil, einst Erste Ballerina beim Stuttgarter Ballett und nun Leiterin des Ballett des Badischen Staatstheaters sowie der Akademie des Tanzes Mannheim. „Ricky hat von den Zeiten in Stuttgart gesprochen.“

Dort tanzte Cragun über dreißig Jahre. 1962 hatte ihn der Ballettchef John Cranko nach Stuttgart geholt, bereits 1965 wurde er zum Ersten Solisten ernannt. Auch Keil war häufig seine Tanzpartnerin. „Es ist, als ob ich einen Bruder verloren hätte“, beschreibt sie. „Ricky war ein wunderbarer Bühnenpartner, ich konnte mit geschlossenen Augen tanzen. Er hat zu unser aller Erfolg beigetragen.“ Für sie ist „Initialen R.B.M.E.“ denn auch das ikonografische Werk dazu: Cranko choreografierte es seinen Tanzikonen, welche von Anfang an der Erfolgstory beteiligt waren, auf den Leib: Ricky Cragun, Birgit Keil, Marcia Haydée und Egon Madsen. „Cranko hat unsere Persönlichkeiten und Fähigkeiten aufgenommen und das Wirken seines Ensembles manifestiert“, so Keil. Dass nun einer davon fehle, reiße ein tiefes Loch in das Tableau.

Ein Stück Ballettgeschichte

So sieht das auch Rainer Woihsyk, der Vorsitzende der Noverre-Gesellschaft, die alljährlich jungen Choreografen die Chance gibt, eigene Werke auf der Bühne vorzustellen. „Er war ja nicht mehr in Stuttgart, aber es gab Kontakt – jetzt geht das nicht mehr, es ist endgültig“, so Woihsyk. „Ricky hat ein Stück Ballettgeschichte geschrieben: Als Tänzer wie als Mensch hatte er eine wunderbare kooperative Art.“ Nie hätte er gegebene Dinge als gegeben hingenommen, ob Garderobiere, Kostümbilder oder Pförtner, er habe die Arbeit von jedem gewürdigt und jeden mit Respekt behandelt. Wie Keil und Anderson ist er froh, dass „Ricky“ noch vergangenes Frühjahr den fünfzigsten Geburtstag des Stuttgarter Balletts mitfeierte.

Bis dahin hatte Cragun einige persönliche wie gesundheitliche Rückschläge überstanden. Nachdem er von 1996 bis 1999 Ballettdirektor an der Deutschen Oper in Berlin gewesen war, leitete er in seiner Wahlheimat Brasilien von 2002 bis 2005 die Ballettkompanie des Teatro Municipal in Rio de Janeiro, von 2003 bis 2004 das dortige Ballett des Stadttheaters. Mit seinem Lebensgefährten Roberto de Oliveira, Ex-Hauschoreograf beim Stuttgarter Ballett, eröffnete er – siehe Zweittext – eine Kompanie samt Schule für Kinder aus den Armenvierteln, den Favelas.

So erinnert man sich an ihn nicht nur in Rio oder Stuttgart, sondern auch in Berlin. Cragun sei eine der großen starken Tänzerpersönlichkeiten der zweiten Jahrhunderthälfte in Deutschland gewesen, ein offener, großzügiger Charakter, der dem klassischen Handlungsballett als auch mit den dynamischen Innovationen in Ballett und zeitgenössischem Tanz verbunden gewesen sei, so Johannes Odenthal, der Programmbeauftragte der Akademie der Künste Berlin. „Dank seiner Souveränität als Ballettstar pflegte er eine affektive Nähe zu radikalen, kulturell und politisch engagierten Positionen im Tanz. Auch in seiner Berliner Zeit als Ballettdirektor ging er diesen Weg zwischen künstlerischem klassischem Erbe und Recherche.“