Die ’Ndrangheta gilt als reichste und beweglichste Mafia Italiens. In der Region dehnt sie ihren Einfluss in Wirtschaft und Politik aus.

Stuttgart - Als der Killer mit kalter Sachlichkeit seines Amtes waltet, weht eine laue Sommerbrise durch die Stadt. Es ist spät am Abend, Luigi Ferrara stellt seinen Wagen vor dem Haus ab. Aus zehn Metern feuert der wartende Killer drei Schüsse auf den italienischen Kaufmann ab. Ferrara bricht vor der Wohnungstüre zusammen. Das reicht dem Schützen nicht. Er nähert sich langsam, um den Auftrag mit dem Behagen eines Mannes zu vollenden, der Freude empfindet am tödlichen Werk. Zeugen hören nach den ersten Schüssen ein Lachen, unverhohlen und markerschütternd. Anschließend jagt der Mörder seinem wehrlosen Opfer aus weniger als sechzig Zentimetern zur Sicherheit zwei weitere Kugeln in den Kopf. Am 28. Juli 1997 starb Luigi Ferrara im Kugelhagel, mitten in einem belebten Wohngebiet in Ludwigsburg. Mehr als 13 Jahre nach diesem Mord gibt es noch immer keine Spur zum Täter. Allein eines ist für die Fahnder klar: die tödlichen Grüße an den Kaufmann kamen aus Italien. Die Mafia, dies offenbart nicht nur der Mord an Luigi Ferrara, ist kein aus der Zeit gefallener Folkloreclub, sondern eine ultramoderne Verbrecherorganisation, die längst auch in Baden-Württemberg operiert. Vor allem im Ballungsraum am Neckar, wo 60.000 Italiener leben, hat sie Fuß gefasst und versucht über wirtschaftlichen Einfluss ihre politische Macht zu stärken.

Die Region erweise sich als besonders gutes Pflaster, weil die Mafia hier gefährlich unterschätzt werde, meint die in Venedig lebende Journalistin Petra Reski, die sich seit langem mit dem Verbrechersyndikat beschäftigt. "Stuttgart ist seit Jahrzehnten eine Hochburg der Mafia in Deutschland, speziell zweier Clans der kalabrischen ’Ndrangheta, die auch die umliegenden Orte wie Waiblingen, Ludwigsburg, Esslingen, Fellbach als ihr ureigenstes Terrain betrachten", sagt sie. "Die Mafia kam im Gefolge der Gastarbeiter und ist bis in höchste Gesellschaftsspitzen vorgedrungen. Heute macht sie in Stuttgart ihre Geschäfte in der Bauindustrie, im Immobilienhandel, in der Gastronomie." Italienische Ermittler bestätigen das. "Im süddeutschen Raum ist die Region Stuttgart in fester Hand kalabrischer Gruppierungen von Ciró, insbesondere des Clans von Farao", sagt Roberto Scarpinato, leitender Oberstaatsanwalt der Abteilung Mafiabekämpfung in Palermo. Einem als vertraulich eingestuften Bericht ("VS – nur für den internen Dienstgebrauch") des Bundeskriminalamts zufolge hat sich eben dieser Clan in den vergangenen Jahren "beachtlich verstärkt". In der 236 Seiten umfassenden Analyse, die der Stuttgarter Zeitung vorliegt, ist die Rede von einem deutlichen "Qualitätssprung". Aufgelistet sind deutschlandweit mehr als 750 mutmaßliche Mafiosi, die im Verdacht stehen, für die ’Ndrangheta zu arbeiten. Auffällig viele von ihnen wohnen rund um Stuttgart.

Die kriminelle Parallelgesellschaft bleibt unbehelligt


Einer der genannten Namen ist den Beamten zur Bekämpfung der organisierten Kriminalität bestens bekannt. Es handelt sich um einen früheren Promiwirt aus Stuttgart-Weilimdorf, der 1993 deutschlandweit in die Schlagzeilen geriet, weil man ihn der Geldwäsche im großen Stil bezichtigte. Der Fall bekam dadurch besondere Brisanz, dass der süditalienische Kneipier häufiger einen Gast hatte, den er gern als "meinen Minister" bezeichnet hat. Gemeint ist der damalige CDU-Fraktionschef im Landtag und heutige EU-Kommissar Günther Oettinger, der gerne und oft seinen Feierabend im Weilimdorfer Restaurant ausklingen ließ. Da Fahnder das Telefon des Lokals über Monate abhörten, wurde auf diese Weise so manches auf Tonbändern konserviert, was der italophile Christdemokrat zu vorgerückter Stunde über politische Freunde und Feinde zu erzählen wusste. Die Sache mündete in einen für Oettinger pikanten Untersuchungsausschuss baden-württembergischen im Landtag. Schon damals wurde im Auftrag des Stuttgarter Justizministeriums ein Geheimdossier zur lokalen Mafiaszene angefertigt. Darin beschrieben die Ermittler, wie Jugoslawen und Italiener um die Vorherrschaft in der Stuttgarter Zockerszene streiten. Ein Jugoslawe kam dabei ums Leben. Die Polizei konnte drei Täter ermitteln, die später zu lebenslangen Freiheitsstrafen verurteilt wurden. Auffällig war für die Fahnder, dass alle Täter und sonstigen Verdächtigen aus Ciró stammten, jenem 5000-Einwohner-Städtchen aus dem kalabrischen Hinterland.

Trotz dieser Erkenntnisse blieb die kriminelle Parallelgesellschaft weitgehend unbehelligt. Zwar wurde der überwachte Gastronom später wegen Steuerhinterziehung zu 21 Monaten Freiheitsstrafe auf Bewährung und Rückzahlung der Steuerschuld von 1,3 Millionen Mark verurteilt sowie aufgrund einer internationalen Ausschreibung von den italienischen Behörden wegen Mitgliedschaft "in einer kriminellen Vereinigung nach Art der Mafia" in Deutschland festgenommen. In seiner Heimat kam der ausgelieferte Wirt jedoch schon bald wieder frei, was er gebührend im Weilimdorfer Ristorante feierte. Seine landsmannschaftliche Karriere hat dies eher beflügelt. Das Bundeskriminalamt geht davon aus, dass der Kneipier durch seinen Freispruch intern sogar aufgestiegen ist. Er soll eine "gehobene Stellung innerhalb des Clans Greco und auch des Clans Farao" haben und für die "finanziellen Aspekte" verantwortlich sein. Gleich hinter ihm ist in der BKA-Verschlusssache ein mutmaßlicher Vertrauter aufgeführt, der ebenfalls als Gastronom in Stuttgart angesiedelt ist. Es handelt sich dabei um einen bisher kriminalpolizeilich unbescholtenen Mann, der in jüngster Zeit zweimal in Erscheinung trat.

Am 30. Dezember 2009 zeigte ihn die "Bild"-Zeitung groß auf einem Foto neben dem Ministerpräsidenten Günther Oettinger, der vor seinem Wechsel nach Brüssel stand. "Stammkunde Oettinger sagt Ade", titelte das Blatt in dicken Lettern und zitierte den Wirt namentlich mit den Worten: "Schade, ein Freund geht." In der vergangenen Woche hat den im BKA-Bericht erwähnten "Freund" des Exministerpräsidenten ein weiteres Mal das Licht der Öffentlichkeit gestreift – und zwar in einer heiklen Angelegenheit. Der Name des Gastwirts tauchte bei einer Verhandlung im Stuttgarter Landgericht auf. Dort befasst sich die Justiz zurzeit mit dem versuchten Mord an dem Stuttgarter Herrenausstatter Felix W. Der Modemacher mit exquisiten Geschäften in Stuttgart, Zürich und München, der auch als Projektentwickler von Immobilien auftritt, war im November vorigen Jahres auf seinem Firmengelände von Maskierten überfallen und brutal mit zwei Schüssen niedergestreckt worden. Der Unternehmer, der sofort das Bewusstsein verlor, überlebte den perfiden Anschlag nur mit Glück. Vier Italiener wurden von der Polizei gefasst. Sie müssen sich nun vor dem Landgericht verantworten. Wie sich bei den Ermittlungen der Stuttgarter Kriminalpolizei herausstellte, waren zwei der Tatverdächtigen in jüngster Zeit ausgerechnet bei jenem italienischen Gastronomen beschäftigt, der sich via Zeitung selbst als "Freund" des scheidenden Ministerpräsidenten bezeichnet hatte.