Mit „Rigoletto“ gelingt der Stuttgarter Oper endlich wieder eine Verdi-Inszenierung. Manche Zwischentöne könnten feiner geraten – aber das Publikum ist zu Recht begeistert.

Stuttgart - Privates, Gefühle, Liebe gar haben im Klassenkampf keinen Platz. Gesellschaftliche Ziele sind stärker als der Tod. Mag auch Rigolettos Tochter Gilda einst emsig mit den Farben der Revolution die Parolen „Liberté, Égalité, Fraternité“ auf Blätter gepaust und sie zum Trocknen auf eine Leine gehängt haben – den Verrat am Blau-Weiß-Rot verzeiht der Außenseiter, der bucklige Narr seiner Tochter nicht. Den Herzog von Mantua wollte Rigoletto, Clown und Spaßmacher an dessen Hof, von Sparafucile meucheln lassen, auch weil Gilda im adeligen Libertin, einem sexuellen Freibeuter, das Lebensglück wähnte. Den Plan belauschend hat sie sich an Stelle des Geliebten umbringen lassen, trotz des Liebesverrats des Herzogs.

 

Nun liegt sie sterbend am Boden, ein blutendes Bündel im Leinensack – und wo üblicherweise auf Opernbühnen ein verzweifelter Vater neben ihr knien würde, entfernt sich Rigoletto in der jüngsten Produktion der Staatsoper Stuttgarter wie ein Fremder. In blauschimmernder Mao-Uniform steigt ein Funktionär der Rache eine Treppe empor, im Rücken die tote Tochter. Die letzten Phrasen singen beide aneinander vorbei. Da hat sich längst der Rundprospekt gesenkt, der schwarz-weiß schwelende Stadtruinen zeigte. Im Kreis sitzen die Männer vom Hof des Herzogs, die vorher sonst um keinen Spaß verlegen waren, und sehen unbeteiligt, kalt dem grauen Ende einer gnadenlosen Vorstellung zu.

Das mag irritieren, ist jedoch konsequent. Das Regieteam Jossi Wieler und Sergio Morabito ist trotz erkennbarer Handschrift seit 21 Jahren für Überraschungen gut. Nicht die eingeschliffenen Sichtweisen interessieren das Duo, sondern das genaue Lesen der Werkgenese. Sie sehen bei Giuseppe Verdis 1851 uraufgeführtem „Rigoletto“ – er bildet mit „Il trovatore“ und „La traviata“ die berühmte Meisterwerk-Trias – den Schlüssel in den Bezügen zur Vorlage, Victor Hugos Drama „Le Rois, s’amuse“.

Radikaler Befund im Sinne Victor Hugos

Sergio Morabito deutet den „Rigoletto“ als ein Werk auf dem Weg zum „Theater der Grausamkeit“ eines Artaud, Brecht, Beckett und sieht in der Hauptfigur eine Gestalt, die am Rande der Groteske balanciert. Kein „humanistisches Plädoyer“ für den Außenseiter sei die Oper, sondern radikaler Befund im Sinne Victor Hugos: „Der Mensch ist ein Monster“. Und weil es kein richtiges Singen in der falschen Oper gibt, operieren Wieler/Morabito mit einem zweiten Inszenierungsclou, dem Spiel im Spiel. Ihr Theater läuft nie Gefahr, sich als solches unsichtbar zu machen. Meist leidet die Oper heutzutage unter einem Missverständnis. Regisseure glauben, Oper müsse irgendeine Repräsentation der Gegenwart darstellen, um berechtigt oder relevant zu sein: also verordnen sie den handelnden Personen einen peinlichen Naturalismus, in dem Wirklichkeit mit Wahrheit verwechselt wird.

Wieler/Morabito misstrauen den bebenden Gefühlen des „noblen Vaters“, des liebenden Beschützers Gildas, der am Hof des Herzogs die Männer anklagt, ihm die Tochter geraubt zu haben: „Cortigiani, vil razza dannata“. Das ist Rigolettos großer Auftritt, Höhepunkt jeder Aufführung dieser Oper. Hier wird die große Szene zu eben dem: einer Theaterszene, inklusive dramatischem Scheinwerferkegel auf dem Krüppel (zur Kenntlichkeit gehört bei Wieler/Morabito der körperliche Makel der Figur an der linken Schulter): Rigoletto schlüpft in eine Rolle, die nicht seine eigene ist. Theater auf dem Theater – ironisch hängt er sich einen Krönungsmantel um, vielleicht ist es der von Napoleon, wie man ihn aus dem berühmten Bild von Jacques-Louis David kennt. Was wird hier gespielt: der Sozialist im Ornat des Kaisers oder Verrat an der Revolution? Die Höflinge lachen sich schlapp.

Bert Neumanns Bühnenbild spielt mit der Kulissenhaftigkeit, indem ein Rundvorhang, dessen samtlila den Hauptvorhang des Stuttgarter Opernhauses zitiert, anfänglich das Szenenbild auf der Drehbühne verbirgt. Wird die Gardine herumgezogen, ist sie innen mit der erwähnten gespenstischen Stadtansicht gefüttert, einer Stadt, die zu Beginn, wenn nicht einladend, so doch intakt gewesen ist. Beim Schwenk der Bühne zeigen die Kulissen antiillusionistisch ihr rückwärtiges Konstruktionsgerippe. Dabei wird Verdis genaue szenische Setzung mit dem Platz vor Rigolettos Haus, dessen Innenhof, später dem Haus der Mördergeschwister Sparafucile (bassschwarzböse: Liang Li) und Maddalena (mezzosatt: Anaïk Morel) gewahrt. Das ironische Viva-Verdi-Graffiti ist eher ein Insiderspaß.

Rigoletto erzieht Tochter zur Klassenkämpferin

In dieser Schiefergrauheit erzieht Rigoletto, Prototyp des heimlichen Revoluzzers, seine Tochter zur Klassenkämpferin und will sie der Welt (und den Männern) vorenthalten. Ana Durlovski ist eine Gilda in Ringelpullover, burschikoser Hose, trägt Schiebermütze, die ihr eine garçonhafte Verspieltheit gibt. Als eben nicht konventionelle virginale Schöne fällt sie damit aus dem Beuteschema des Herzogs: dadurch wird sie interessant für ihn. Die Frage bleibt offen, ob der Reiz des Klassenübersprungs für den Herzog einer von vielen ist, oder ob ihn die Begegnung mit Gilda tatsächlich erschüttert.

Verdi beantwortet das nicht eindeutig, und Wieler/Morabito folgen darin dem Komponisten. Von daher ist die Besetzung mit Atalla Ayan als juvenilem Latin Lover beinahe ideal. Hinzu kommt sein tenoraler Honigschmelz, wenn Ayan auch nicht über die allerletzte elegante Finesse gebietet, die den Bruder Leichtfuß idealerweise charakterisieren würde. Er verlässt sich da eher auf das Forte als Zwischentöne. Von denen bietet Ana Durlovski die meisten im zuverlässigen Staatsopernensemble, wenn auch ihr spezifisches Timbre von silbriger Härte Geschmackssache bleibt.

Markus Marquardt spielt den Buckeligen als düster Besitzergreifenden, mit Mut zum Unsympathischen. Er singt ihn – nach anfänglichen Intonationsproblemen – mit zunehmend kraftvollem Wotan-Bariton, verzichtet auf gewohnte histrionische Effekte. Trotz einiger Pianomomente und Ansätzen von an- und abschwellenden Tönen, der sogenannten Messa di voce, aber bleibt die Farbpalette schmal, könnte die Artikulation sprechender sein. Dennoch: in Stuttgart wird auf recht ordentlichem Niveau gesungen; exzellent agiert die von Johannes Knecht einstudierte Herrenriege des Chors.

Der Chefdirigent Sylvain Cambreling und das gut disponierte Staatsorchester spiegeln den Pessimismus der Bühne mit dunklen Schattierungen. Schon in der Einleitung zur Oper zeichnen die Blechbläser düstere Götterdämmerungsfarben. Cambreling versucht den Laden straff zusammenzuhalten und zuzuspitzen. Einige Tempi wirken seltsam, wie das sehr langsame in Gildas Soloszene „Caro nome“, einiges entrutscht ins Knallige. Doch wird Verdis Meisterpartitur jedweder Firnis einer vorgestellten Sonnigkeit verweigert. Einhellige Begeisterung für eine Inszenierung, deren kluge Akzente nicht das Verstehen der Fabel opfern. So muss es sein.