Beim SPD-Parteitag wurde auch ein Kandidat für den Bundestag gekürt, den kaum jemand kannte. Nun stellt sich heraus: es ist der Ex-Mann der Linken Sahra Wagenknecht, mit bewegtem Vorleben und höchst speziellen Positionen. Wie konnte das passieren?

Titelteam Stuttgarter Zeitung: Andreas Müller (mül)

Stuttgart - Der Jubel um Martin Schulz war allmählich verklungen, die neue Landeschefin Leni Breymaier längst zur Spitzenkandidatin gewählt, da wurde beim SPD-Parteitag am vorigen Wochenende in Schwäbisch Gmünd immer noch gearbeitet. Platz für Platz mussten die Delegierten über die Bewerber auf der Landesliste für die Bundestagswahl abstimmen. Bei den vorderen Rängen war die Aufmerksamkeit noch größer, bei den hinteren ließ sie nach. So fiel nicht weiter auf, dass nicht nur über die 38 Direktkandidaten abgestimmt wurde, sondern auch über einen 39. ohne Wahlkreis. Sein Name – Ralph T. Niemeyer – sagte dem Parteivolk wenig, mit 245 Ja-Stimmen bei jeweils 18 Gegenvoten und Enthaltungen wurde er anstandslos bestätigt. Vorstellen musste er sich nicht, ein Kandidatenblatt von ihm fehlte in der vorab publizierten Sammlung.

 

Erst im Nachhinein merkten aufmerksame Sozialdemokraten, wen sie da zum offiziellen SPD-Kandidaten geadelt hatten: den früheren Ehemann der Linken-Frontfrau Sahra Wagenknecht, einen Polit-Aktivisten mit ziemlich bewegtem Vorleben samt Verurteilung wegen Betruges und höchst eigenwilligen, nur bedingt parteikompatiblen Ansichten. Rund 16 Jahre lang waren Wagenknecht und Niemeyer (46) verheiratet, wie sie engagierte er sich in der Partei Die Linke. Kandidaturen 2013 für den Bundestag und 2014 fürs Europaparlament blieben indes ohne Erfolg.

Von der Linkspartei zur SPD gewechselt

Bereits vor einiger Zeit hatte der in Berlin geborene Sohn eines Ministerialbeamten die Linkspartei verlassen, ohne Angabe von Gründen. Zuständig für ihn war der Landesverband Baden-Württemberg, wegen eines Wohnsitzes im Land. Auch für ihn selbst „völlig überraschend“ wurde er später im Südwesten in die SPD aufgenommen. Er wolle „Stachel im Fleisch“ sein und darauf hinarbeiten, dass es eines Tages wieder eine „gemeinsame starke linke Partei“ in Deutschland gebe, verkündet er auf seiner Internetseite, noch unterm Linken-Logo. Dort kann man auch seine Themen-Schwerpunkte nachlesen: „Weg mit Hartz IV“ zum Beispiel, „Stoppt den Euro-Wahnsinn“ oder „Sanktioniert die Agenda-Verbrecher“, womit offenbar Gerhard Schröder und Mitstreiter gemeint sind. Telefonisch oder per Mail war Niemeyer trotz mehrfacher Versuche nicht zu erreichen.

Noch schillernder als seine Positionen ist seine Vita. Schon als Schüler-Reporter soll er die Bundeskanzler Helmut Schmidt und Helmut Kohl interviewt haben. Später wurde er Autor, Journalist und Filmemacher, stets mit Fokus auf die Missstände in der Welt. Recherchen waren es aus seiner Sicht auch, die ihm vor gut zwanzig Jahren eine Haftstrafe wegen Betruges und ein Berufsverbot als Finanzberater eintrugen. Undercover habe er in der Szene ermittelt – und sei dann zu Unrecht selbst als Täter verurteilt worden. Andere Verfahren, etwa wegen Geschäften mit Gemälden, wurden offenbar eingestellt. Niemeyer soll es zudem gewesen sein, der mit einer Frage an den DDR-Funktionär Schabowski einst die Grenzöffnung auslöste; gesichert ist das nicht. Später machte er Schlagzeilen mit Streitigkeiten um Unterhaltszahlungen für Kinder, die er während der Ehe mit Wagenknecht mit anderen Frauen bekam. 2013 wurden er und seine „üagF“ – seine „über alles geliebte Frau“ – geschieden, doch die Nähe zur Bundestagsfraktion der Linkspartei blieb; einige seiner Filme sollen aus deren Umfeld mit finanziert worden sein.

Genossen über die Abläufe verwundert

Was will ein solcher Paradiesvogel auf dem aussichtstlosen Platz 39 der SPD-Landesliste? Und warum wird er von der Partei geräuschlos dorthin bugsiert? Je mehr sich die schräge Personalie herumsprach, desto mehr Genossen stellten sich solche Fragen. Sollte Niemeyer etwa undercover einen von Breymaier angestrebten Linksruck mit befördern? Verstärkt wurde der Argwohn durch die zeitlichen Abläufe: auf der vom Landesvorstand abgesegneten Liste fehlte der Name noch, erst kurz vor knapp kam er drauf. Prompt monierten Genossen, man habe ihnen den Mann untergejubelt.

In der Stuttgarter SPD-Zentrale wird das zurückgewiesen. Man habe sich bei der Prüfung der kurzfristig angekündigten Kandidatur auf das Formale beschränkt, heißt es. Da habe alles gestimmt, weshalb man ihn nicht abweisen konnte. Der persönliche Hintergrund Niemeyers sei kaum bekannt gewesen, nur einzelne Genossen wussten von der Ehe mit Wagenknecht. Hätten die Delegierten Vorleben und Positionen des Kandidaten gekannt, wäre die Kür wohl kaum so glatt durchgegangen.

SPD-Landeschefin distanziert sich

Die Landesvorsitzende Breymaier will die Personalie aber nicht überbewerten. Sie habe sich in Gmünd auf anderes konzentriert, vorneweg den Auftritt von Martin Schulz und ihre eigene Rede. Niemeyer sei „eine schillernde Persönlichkeit mit speziellen Positionen“, sagte die SPD-Chefin unserer Zeitung und fügte hinzu: „...die ich zum großen Teil nicht teile“.