Die Gründung ihrer Initiative „Women & Walk“ war nicht ganz uneigennützig. Juliane Brosz ist nach ein paar Jahren in Großbritannien wieder nach Stuttgart gezogen. Was der 36-Jährigen gefehlt hat: Freunde. Und vor allem Menschen, mit denen man auch spontan mal etwas unternehmen kann. Konzerte, Essen gehen oder einfach spazieren – ab Mitte 30 stellen viele fest, dass viele um sie herum nun mit der Familie beschäftigt sind. „Natürlich ist es eine Aktion gegen Einsamkeit. Ich habe mich auch gefragt, ob ich es direkt so nenne, weil im Grunde ist es ja genau das, aber das Thema ist immer noch sehr schambehaftet“, sagt Brosz. „Aber Einsamkeit bedeutet ja eigentlich auch nur: mein soziales Bedürfnis ist nicht gedeckt.“
Sie habe bewusst eine Art lockere Zusammenkunft gewählt. Anfangs stellte sie den ersten Spaziergang in der App „Meet up“ ein, es meldeten sich sofort 60 Frauen an. Inzwischen bewirbt sie die Treffen über den Instagram-Account von „Women & Walk“. Die Nachfrage ist riesig. Längst gibt es eine Whatsapp-Gruppe, wo sich auch kleinere Gruppen für Aktivitäten zusammenschließen oder sich spontan verabreden.
Zwanglose Treffen – hilft das gegen Einsamkeit?
Aber zwanglose Treffen – ist es nicht genau das, wo man vielleicht gar nie wirklich tiefe und enge Freundschaften eingeht? Weil man immer spontan absagen kann? Sich nie wirklich festlegen muss? „Klar, manche kommen sporadisch, wenn es ihnen gerade passt. Aber das ist auch in Ordnung“, sagt Brosz. Sie sieht es genau umgekehrt: „Ich bin jedes Mal da. Ich lebe damit vor, wie es ist zuverlässig und verbindlich zu sein.“ Außerdem will sie niemand ein schlechtes Gewissen machen, wenn sie doch mal nicht kann. Dann sei die Hürde, beim nächsten Mal wieder dabei zu sein, noch größer. „Sozialisieren ist ein Muskel, den man trainieren muss“, findet Juliane Brosz. Der Einstieg sei daher bewusst von ihr sehr leicht gemacht – damit niemand abgeschreckt wird oder sich vielleicht gar nicht traut, zu kommen.
„Das Gefährliche bei Einsamkeit ist ja: man igelt sich ein“, sagt sie. Und dann werde es immer schwieriger, aus der Situation herauszukommen. Ein Spaziergang sei da ideal, jede Frau könne auch einfach mal nur eine halbe Stunde mitlaufen, vielleicht auch schweigend. Und dann fällt es vielleicht beim zweiten Mal schon leichter, mitzugehen.
Eine Messung des statistischen Amtes der Stadt Stuttgart kommt auf rund 58 000 Menschen in Stuttgart, die sich einsam fühlen. Dies entspricht einem Anteil von knapp zwölf Prozent an der Stadtbevölkerung. Dabei wurden zunächst laut dem Monatsheft des Statistischen Amtes Menschen als eher einsam eingestuft, die angaben, nur etwa einmal im Monat Kontakt zu Freunden oder Verwandten zu haben und weniger als vier Menschen nannten, mit denen sie vertrauliche Gespräche führen konnten – und sich dabei gleichzeitig als unglücklich bezeichneten. Seit 2023 erfragt das Amt nun gezielt nach Einsamkeitsgefühlen wie „Ich vermisse Menschen, bei denen ich mich wohlfühle“ oder „Ich vermisse Wärme und Geborgenheit“.
Mit Corona fing es an
Corona gilt als ein Auslöser, warum immer mehr Menschen sich einsam fühlen. Nach der Pandemie hat der Gemeinderat daher entschieden, dass es eine kommunale Strategie gegen Einsamkeit braucht. Gabriele Reichhardt, Leiterin der Abteilung strategische Sozialplanung Stuttgart, und drei weitere Kollegen kümmern sich um die Stuttgarter Strategie gegen Einsamkeit. Ein großes Ziel sei die Enttabuisierung des Themas, sagt sie. „Viele Einsame reden gar nicht über ihre Einsamkeit“, so Reichhardt. Das ist dann oft ein Teufelskreis.
Mit ihrem Team bietet sie Schulungen, Vorträge und Workshops an – auch um andere Einrichtungen und Institutionen in der Stadt zu schulen. „Die sind auch wirklich extrem nachgefragt“, sagt Reichhardt. Fast 40 Vorträge halten sie im Jahr, sowohl bei Betroffenen als auch bei Multiplikatoren. Ihr Ziel sei es, Netzwerke aufzubauen und bestehende Angebote bekannter zu machen, eigene Projekte wie eben zum Beispiel einen Stadtspaziergang bieten sie nicht an.
Vulnerable Gruppen seien auch jüngere Menschen, oft ist die Einsamkeit hier ein Auslöser für andere psychische Erkrankungen. Menschen mit Migrationshintergrund, Erkrankte oder sozial Benachteiligte sind häufiger von Einsamkeit betroffen als der Rest der Gesellschaft. „Und die drei Risikofaktoren erhöhen sich natürlich im Alter“, sagt Reichhardt.
In Stuttgart gibt es viele Angebote, um gegen Einsamkeit anzukämpfen. Foto: Imago/Sven Simon
Für alle drei Gruppen sind auch städtebauliche Strukturen wichtig, also Orte, wo Menschen sich einfach treffen könnten, sagt Reichhardt. Deshalb sei die Abteilung auch mit den Stadtteilzentren und Generationenhäusern im Gespräch. Was sie betont: Einsamkeit sei kein Versagen; jeder könne einsam werden, aber ebenso wieder Anschluss finden.
Während es häufig heißt, Menschen in der Stadt seien einsamer, weil die sozialen Netzwerke nicht so eng sind, hat sich dies laut ihrem Kollegen Marcel Ruß in einer Studie nicht bestätigt. Letztlich sei eher die Infrastruktur oder etwa das Vereinsleben entscheidend, sagt Ruß.
Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen sind gering
Auch die Unterschiede zwischen Männern und Frauen seien an sich eher gering. Das Statistische Amt schreibt dazu, es gebe zwar keinen großen, aber immerhin einen statistisch signifikanten Unterschied, wonach Männer tendenziell einsamer sind. Dies lasse sich vermutlich darauf zurückführen, dass Frauen im Durchschnitt ein größeres, soziales Netzwerk pflegten als Männer. „Bei manchen Ereignissen im Leben wie das Ende des Studiums, eine Trennung oder Verwitwung neigen Männer eher dazu, sich völlig zurückzuziehen“, sagt Ruß.
Ganz konkret hilft es offenbar, wenn Menschen sportlich aktiv sind. Das geht ebenfalls aus der Auswertung des Statistischen Amtes aus dem Jahr 2024 hervor. Sportlich aktive Menschen gaben weniger an, sich einsam zu fühlen – was vermutlich daran liege, dass Sport häufig mit einer sozialen Komponente einhergehe, so die Interpretation des Amtes. Dazu muss man gar nicht unbedingt Mitglied in einem Sportverein werden, es gibt auch unverbindliche Angebote wie zum Beispiel Sport im Park oder verschiedene Lauf- und Fitnessgruppen, die sich Parks treffen.
In der derzeitigen zweiten Phase setzen Reichhardt und Ruß mit ihrem Team auf eine groß angelegte Kampagne. Unter dem Stichwort „GemEINSAMkeiten“ haben sie in der Stadt Bilder und Plakate aufgehängt und Anzeigen in sozialen Netzwerken geschaltet, um die Stuttgarterinnen und Stuttgarter zu sensibilisieren.
Aus den anfangs noch 40 Partnern, sind laut Reichhardt inzwischen über 400 geworden. Und: Im Jahr 2025 gab es immerhin schon eine geringfügige Verbesserung: In der Auswertung fühlten sich nur noch 10,3 Prozent einsam – nicht mehr knapp 12.
Einsamkeit führt zu extremeren Einstellungen
Etwas gegen Einsamkeit zu tun, hilft nicht nur Einzelnen, es könnte sogar die Demokratie stärken. Denn Menschen, die sich isoliert fühlten, verlieren oft das Vertrauen in staatliche Institutionen und beteiligen sich seltener am politischen Geschehen, so Reichhardt. Gerade bei den 18 bis 27-Jährigen sei die Einsamkeitsbelastung seit Corona unverändert hoch. „Das ist ein Auftrag an die Kommunen, den sozialen Zusammenhalt zu stärken,“ so Reichhardt.
Insgesamt brauchen viele Menschen später im Leben mehr öffentliche Angebote, um Freunde zu finden. Unser Freundeskreis wächst in der Regel stetig bis zum jungen Erwachsenenalter – und schrumpft anschließend wieder.
Im Laufe des Lebens schrumpft unser Freundeskreis
Das belegte ein Team um den Psychologen Franz Neyer von der Universität Jena und die Psychologin Cornelia Wrzus von der Universität Heidelberg in einer Metaanalyse von 277 Studien mit über 180 000 Versuchspersonen. Umzüge waren der Hauptgrund dafür, dass sich Freundschaften mit der Zeit verliefen.
Gerade in den letzten Jahrzehnten sind junge Menschen viel häufiger für Studium oder Arbeitsplatz umgezogen – und wechseln auch während ihres Berufslebens öfter als früher die Stadt oder sogar das Land. „Ich finde es daher normal, wenn einem auf die Dauer vielleicht aus jeder Phase des Lebens nur eine Person bleibt – es müssen nicht ganz viele sein“, sagt Juliane Brosz. Auch findet sie es wichtig, dass man Freunden offen von seinen Gefühlen erzählen könne: „Du, ich fühle mich gerade einsam. Können wir öfter etwas unternehmen?“ Das breche endlich das Tabu.