Das 100-Jahr-Jubiläum des Auktionshauses Nagel ist inzwischen auch schon wieder zwei Jahre vorbei. Doch das Jubiläumsplakat hängt unverändert an der Fassade des Firmensitzes, der sich wie eine Trutzburg über die Stuttgarter Neckarstraße erhebt. Und auch die Dienstwagen auf dem Parkplatz schmückt ein unübersehbarer Aufkleber mit der „100“-er Marke. Nun gibt es bald eine weitere, allerdings weniger erfreuliche Erinnerung an die Feierlichkeiten, keine zehn Autominuten weiter gen Innenstadt. Am Landgericht Stuttgart dürfte Anfang 2025 ein Nachspiel zu jener ganz besonderen Versteigerung stattfinden, mit der Nagel das Jubiläumsjahr eröffnet hatte. Dort wird über den Millionenerlös einer Auktion gestritten, auf die das Traditionshaus mächtig stolz war. Unter den Hammer kamen etwa 150 Drachen, die Künstler aus aller Welt – darunter viele berühmte Namen – vor bald vier Jahrzehnten geschaffen hatten, bekannt als „Art Kite Collection“.
Nagel hat zwar den Anlass für das Zivilverfahren geliefert, damit aber ansonsten nichts mehr zu tun. Kläger ist das renommierte Goethe-Institut, ein überwiegend aus Bundesmitteln finanzierter gemeinnütziger Verein mit Hauptsitz in München, der weltweit Sprache und Kultur Deutschlands vermittelt. Seine Klage richtet sich gegen die Erben eines längst verstorbenen Goethe-Vertreters, des einstigen Statthalters im japanischen Osaka, Paul Eubel. Der promovierte Jurist hatte einst die Idee zu der internationalen Kunstaktion, angeblich, als sich ein in seiner Wohnung aufgehängter japanischer Drachen in der Glasabdeckung eines anderen Bildes spiegelte: es sah aus, als habe der Meister einen Drachen bemalt.
Hilfe aus der Luft dank der „Himmelsbilder“
In der Folge gewann Eubel reihenweise international angesehene Künstler dafür, „Bilder für den Himmel“ zu schaffen. Ob Niki de Saint Phalle, Jean Tinguely, Gerhard Richter, Otto Herbert Hajek oder Klaus Staeck – sie alle lieferten jeweils ein Werk für die Sammlung, auf japanischem Drachenpapier. Überzeugen ließen sie sich nicht nur vom originellen Konzept und dem charmanten Werben des Initiators, sondern auch von dessen speziellem Versprechen: Nach dem Auftakt in Osaka und einer Tournee durch die Welt werde die „Art Kite Collection“ versteigert, zugunsten der „Katastrophenhilfe der Vereinten Nationen“. Die Himmelsbilder ermöglichen Hilfe aus der Luft – dieser Aspekt habe „viele Künstler von Weltrang zur Teilnahme veranlasst“, so betonte der seinerzeitige Präsident des Goethe-Instituts fest, Klaus von Bismarck.
Nach Eubels Tod 2010 mit nur 66 Jahren an seinem letzten Wohnort Palermo gerieten die Drachen in Vergessenheit. Gut zehn Jahre später tauchten sie plötzlich wieder auf. Die zur Ausbildung nach Stuttgart gezogenen Söhne des Goethe-Mannes, Tilman und Nahuel, nahmen sich der Sammlung an. Die Träume von einer geschlossenen Weitergabe platzten so schnell wie in der Vergangenheit Pläne für ein eigenes Museum. Also wurde der Verkauf in Angriff genommen, über das Auktionshaus Nagel. Von einem Lager in Köln wurden die farbenfrohen und fragilen Drachen nach Stuttgart gebracht. Dort geriet die geplante Versteigerung zum Medienereignis. Illustre Bieter – darunter auch Top-Manager wie der frühere VW-Chef Matthias Müller – ließen sich die „Himmelsbilder“ einiges kosten, beim teuersten Werk eines Japaners erfolgte der Zuschlag für fast 1,5 Millionen Euro. Insgesamt kamen fast sechs Millionen Euro für die Eubel-Brüder als „Einlieferer“ zusammen, zuzüglich eines stattlichen „Aufgeldes“ für den Versteigerer. Für Nagel war die Auktion somit gleich doppelt erfolgreich: finanziell und als PR-Coup.
Bis heute taucht nirgendwo eine Spende auf
Nur die „Katastrophenhilfe der UN“ – die es unter diesem Namen aktuell gar nicht gibt – sah bis heute nichts von dem Geld. Eine Rundfrage unserer Zeitung bei allen in Frage kommenden Institutionen ergab überall Fehlanzeige. Man werde die Millionen nach Abzug der Kosten spenden, versprach Tilman Eubel vage. Doch irgendwann hieß es, es sei praktisch nichts mehr übrig geblieben. Nicht nur unsere Zeitung fragte beim Goethe-Institut nach, ob man das so hinnehme. Auch der Heidelberger „Plakatkünstler“ Klaus Staeck – einer der Teilnehmer – erinnerte die Institution an ihre „Garantenstellung“: Auf ihr Wort hätten sich die Künstler einst verlassen, nun sei es auch einzulösen.
Lange zeigte das Goethe-Institut Geduld. In den vergangenen Monaten, berichtet eine Sprecherin, habe die eigene Anwältin mit dem Anwalt der Erbengemeinschaft verhandelt. „Wir haben einen Vergleich vorgeschlagen mit dem Ziel einer zügigen außergerichtlichen Abwicklung.“ Doch das Gegenangebot sei „leider nicht akzeptabel“ gewesen. Da man sich in der Verantwortung sehe, „den ursprünglichen Zweck der Aktion mit den Kunstdrachen zu verwirklichen“, habe man inzwischen Klage beim Landgericht Stuttgart eingereicht. Deren Ziel: der gesamte Erlös der Versteigerung solle an das Goethe-Institut ausgezahlt werden, welches ihn dann „dem ursprünglichen Zweck zuführen und ihn einer Nachfolgeorganisation der Katastrophenhilfe der UN spenden“ werde.
Gut- oder bösgläubig – das könnte eine zentrale Frage werden
Beim Landgericht wird der Eingang einer entsprechenden Klage bestätigt. Gefordert werde ein „mittlerer siebenstelliger Betrag“, so ein Sprecher, den die Erbengemeinschaft – entgegen der Absprache mit Paul Eubel – „für sich selbst verwendet“ habe. Anfang Dezember sei die Klage zugestellt worden, nun hätten die Beklagten Gelegenheit zur Stellungnahme. Die Kammer habe das schriftliche Vorverfahren angeordnet, ein Verhandlungstermin sei noch nicht angesetzt. Tilman Eubel, der ältere der beiden Brüder – beide Mitte zwanzig – teilte auf Anfrage mit, „dass wir beabsichtigen, eine Spende zu tätigen“. Wie genau dies umgesetzt werde, sei „derzeit noch offen und muss in den kommenden Schritten geklärt werden“. Sobald Details feststünden, werde man „selbstverständlich umgehend informieren“.
Ihren Anspruch hatten die Eubel-Söhne („Wir sind mit der Sammlung aufgewachsen, sie ist ein Teil unseres Lebens“) mit einem besonderen rechtlichen Konstrukt begründet: der „Ersitzung“. Wenn man etwas zehn Jahre im Besitz habe, gehöre es einem auch – so steht es im Bürgerlichen Gesetzbuch. Just nach zehn Jahren, wohl kein Zufall, gingen sie die Verwertung an. Entscheidend ist freilich, ob die Besitzer guten Glaubens waren – oder Zweifel haben mussten. Das könnte im Zivilprozess eine zentrale Frage werden.
Für Nagel war die rechtliche Lage klar
Das Auktionshaus Nagel sah sich jedenfalls auf der sicheren Seite. Vor Annahme des Auftrags habe man sich von mehreren Anwälten bestätigen lassen, dass die Eubel-Erben „eindeutig verfügungsberechtigt“ waren, hatte der Geschäftsführer Uwe Jourdan mitgeteilt. Eine vollständige Klärung nach italienischem oder internationalen Recht wäre zu aufwendig gewesen. Rechtliche Auseinandersetzungen um die „Art Kite Collection“ seien weder anhängig noch angekündigt, versicherte er noch im Jubiläumsjahr. Nun kommt es doch anders.