Arte erinnert mit einem der schönsten Filme des Schauspielers an Michel Piccoli: „Die Dinge des Lebens“ erzählt, wie ein Mann sich von seiner Geliebten trennen und ihr ganz nah sein möchte – und das im selben Atemzug.
Stuttgart - Glück braucht keine Worte. Vielleicht verträgt es sie nicht einmal. Unglück aber will ausdiskutiert sein. Oder: mit dem richtigen Wort vertrieben. So, wie der am 12. Mai verstorbene Michel Piccoli in Claude Sautets „Die Dinge des Lebens“ den Architekten Pierre Bérard spielt, möchte man sein: ein Kommunikator für Glückszeiten, fähig, mit dem Gesicht alles zu sagen. Er liebe sie, weil sie alt und hässlich sei, neckt Pierre Helene (Romy Schneider), für die er seine Familie verlassen hat. Ein paar Fältchen um Mund und Augen formen sich in der Magie des Verliebtseins zu gut lesbaren Runen: „Alles wäre nichts ohne dich.“
Das Herz eines Bigamisten
Doch Claude Sautet hat 1970 keinen Film über Glückszeiten gedreht. Pierre liebt Helene, aber er hängt noch an seiner Frau Catherine, will weiter eine Rolle spielen im Leben seines Sohnes, will all die Erinnerungen an die Ehejahre nicht als Kilometermarken eines langen Irrwegs neu bewerten müssen. Im Gegenteil, er will weiter gemeinsame Zeit im Ferienhaus und beim Segeln, will weiter die Essen mit den alten Freunden und vielleicht sogar wieder einen Familienhund. So hat das mit Helene ja schon angefangen, zeigt uns der Film in einer von vielen Rückblenden: Pierre hat Helene nicht an einem Tiefpunkt seiner Ehe kennengelernt, sondern im Familienurlaub mitten im Glück. Wahrscheinlich hat dieser Mann das Herz eines aufrechten Bigamisten und möchte mit beiden Frauen selig leben.
Aber Piccoli zeigt uns auch Pierres Verwirrung, Zweifel, Müdigkeit. Der Mann weiß wohl selbst nicht, was er will. Der Alfa Romeo Giulietta Sprint, in dem er gleich zu Anfang des Films verunglückt, ist jedenfalls kein Familienauto. Mit Pierre hinter dem Steuer ist es aber auch kein grelles Aufreißerauto, kein Potenzsymbol eines alternden Mannes. Vielleicht drückt es aus, dass Pierre die Chance haben möchte, einmal allem, was er aus seinem Leben gemacht hat, davonzurasen – oder schnell irgendwo anzukommen, um einen Fehler wiedergutzumachen.
Sprechen mit den Augenbrauen
Romy Schneider hält Szene um Szene mit Piccolis Kunst mit, alles ohne Dialoge zu sagen. Glück, Misstrauen, Verletztsein, auch auf ihrem Gesicht sieht man die Gefühle, gar ganze sonst verborgene Gedankenketten, so wie ein Chirurg bei geöffneter Bauchdecke die Organe des Patienten. Aber diese von Schneider so klar gespielte Helene ist eben nicht zufrieden mit Mimik und Gestik. Sie will klare Worte zu dem, was Pierre hinter seinem ausdrucksstarken Gesicht (einmal formt er im Straßenverkehr nur mit den Augenbrauen „erbärmlicher Vollidiot“) möglicherweise versteckt. Leider ist Pierre gerade dann ein Mann des Schweigens, wenn Helene Worte braucht: im Moment des Unglücks..
Der 1924 geborene Claude Sautet hatte schon zuvor einige sehr gute Filme gedreht, aber „Die Dinge des Lebens“ brachte ihm den Durchbruch. Von nun an waren seine Filme nicht schlau und zupackend, sondern weise und aufwühlend. In Schneider und Piccoli hatte er sein Traumpaar gefunden, mit dem er weitere Filme drehte: Die beiden sind hier so etwas wie ein mächtiger Knall ganz ohne Knalleffekte und theatralischen Qualm, der reine Energiekern einer Explosion.
Ausstrahlung: Arte, Sonntag, 24. Mai 2020, 21.45 Uhr. Im Anschluss um 23.10 folgt die Doku „Der erstaunliche Monsieur Piccoli“.