Der Alltag im Rotlicht ist wenig glamourös. Julia Wege und der Fotograf Hyp Yerlikaya haben die Biografien von Prostituierten in der Ausstellung „Gesichtslos“ dokumentiert, zu sehen in Esslingen. Ein Gespräch über geplatzte Träume und Ausstiegswünsche.

Familie/Bildung/Soziales: Hilke Lorenz (ilo)

Sie haben schon in ihrer Kindheit und und in ihren Herkunftsländern Gewalt und Armut erlebt und glauben dann falschen Versprechungen von einem besseren Leben in Deutschland. 90 bis 95 Prozent der Frauen, die in der Prostitution arbeiten, wollten das nie und träumen vom Ausstieg. Die Sozialwissenschaftlerin Julia Wege hat die Frauen nach ihren Lebensläufen befragt. Der Fotograf Hyp Yerlikaya hat Prostituierte für die Ausstellung mit der Kamera über Jahre begleitet. Einblicke in einen Beruf, der, wie Julia Wege sagt, kein Beruf wie jeder andere ist.

 

Frau Wege, wie erleben Prostituierte ihren Job im Rotlichtmilieu?

Nicht als Beruf wie jeden anderen. Sie schämen sich oft für das, was sie hier in Deutschland machen. Sie sehen ihre Tätigkeit eher als Übergang, als Phase, aus der sie wieder rauskommen wollen. 90 bis 95 Prozent der Frauen kommen aus sozial schwachen, bildungsfernen Milieus, haben meist Migrationshintergrund. Das ist Prostitution aus Armut und nicht Luxus-Prostitution wie bei den restlichen fünf Prozent. Emotional schwierig ist das alles für die Frauen, die in Deutschland oft sexuelle Dienstleistungen gegen ihren eigenen Willen anbieten und das vor ihrer Herkunftsfamilie verheimlichen.

Heißt das, den Frauen ist ein anderer Job in Deutschland versprochen worden?

Ja. Vom Kindermädchen bis hin zur Arbeit im Nagelstudio. Als ich noch in der Beratung tätig war, habe ich es bei unserem Frauencafé in Mannheim oft erlebt, dass Frauen gefragt haben, ob sie ein Selfie mit mir machen dürfen. Sie wollten ihren Eltern ein Foto von ihrer Arbeitskollegin schicken, um ihnen das Bild von einer heilen Welt in Deutschland zu suggerieren.

Wie sind diese Frauen dann dazu gekommen, als Prostituierte zu arbeiten?

Die meisten kommen aus ärmsten Ländern mit sozialer Ungleichheit, in denen sie schon ausgegrenzt wurden, weil sie vielleicht einer ethnischen Minderheit angehören. Manche haben zudem Schicksalsschläge wie Trennung, Scheidung oder Tod der Eltern erlebt. Dazu körperliche und seelische Gewalt – bis hin zu sexuellen Übergriffen. Das hinterlässt tiefe Spuren, wenn man keine Unterstützung aus dem sozialen Umfeld erfährt. Wenn dann in einer solchen Krisenzeit im Teenie- oder Jugendalter ein toller Freund kommt, der dann emotionale Zuwendung, Liebe, die Idee, sich gemeinsam etwas aufzubauen, anbietet und die Schutzlosigkeit der Frauen missbraucht, lassen sie sich auf das Angebot ein, nach Deutschland zu gehen.

Die klassische Loverboy-Methode…

…ja, genau. Wenn sie dann hier sind, werden sie auf die Bordelle verteilt. Manche Frauen haben mir berichtet, dass sie kein Deutsch konnten aber eine Preisliste bekommen haben. Und so mussten sie sich dann im Bordell anbieten.

Verdienen sie dann wenigstens gut?

Das Gegenteil ist der Fall. Die Frauen sind in der Regel abhängig von ihrem Partner, Zuhälter, Loverboy und anderen Akteuren des Rotlichts, die eher im kriminellen Bereich zu verorten sind. Das ist ein sehr gewalttätiges Umfeld. Die Frauen müssen den Verdienst abgeben oder teilen. Ich habe Frauen erlebt, die mussten bis zu 20 000 Euro für ihre Reise nach Deutschland abarbeiten. Außerdem müssen sie bis zu zehn Freier pro Tag bedienen, um nur die Fixkosten wie Tagesmiete und Steuer bezahlen zu können.

Die Ausstellung „Gesichtslos“ legt den Schluss nahe, dass alle sich ihr Leben so nicht vorgestellt haben und aussteigen wollen. Warum ist der Ausstieg so schwer?

Die bürokratischen Hürden sind hoch und in der Regel sind Frauen nicht in der Lage, sich bei einem Vermieter oder einer Arbeitsstelle vorzustellen, um Regale einzuräumen oder als Kassiererin zu arbeiten. Wir reden hier nicht von der Mittelschichtsfrau, die ihre Rechte kennt, sondern von Frauen, die bisher wenig Respekt erlebt haben. Die Frauen brauchen einen langen Atem und viel Geduld. Und dann kommt noch der gesundheitliche Aspekt: Viele sind krank und nicht versichert ist und müssen auch erst mal verarbeiten, was sie in Deutschland erlebt haben.

Kann man einen Job in der Prostitution überhaupt körperlich und psychisch unversehrt hinter sich lassen?

Daran habe ich meine Zweifel. Es ist sicher ein Unterschied, ob eine Frau im Monat drei Freier hat und für jede sexuelle Dienstleistung um die 2000 Euro oder auch mehr verdient oder ob sie jeden Tag zehn bis 15 Stunden im Rotlicht arbeitet, mehr als zehn Freier bedienen muss und über keine anderen Sozialkontakte verfügt. Da wird es kritisch. Dies bestätigen ja auch Studien oder die Expertise von Trauma-Therapeutinnen und Ärzten. Danach sind die psychischen oder physischen Folgen für Frauen mit der Traumatisierung durch Kriegserlebnisse gleichzusetzen.

Infos zur Prostitution

Person
Julia Wege gründete im Jahre 2012 die Beratungsstelle Amalie für Frauen in der Prostitution in Mannheim, deren Leiterin sie bis 2021 war. In ihrer Doktorarbeit hat sie die Biografien von Prostituierten erforscht. Seit September ist die Professorin an der Hochschule Ravensburg-Weingarten. Ihre Lehrschwerpunkte liegen in den Bereichen Gemeinwesenarbeit, Methoden und Theorien der Sozialen Arbeit, Professionalisierung und Beratung.

Ausstellung
Die Ausstellung „Gesichtslos“ ist bis zum 25. Februar in der Franziskanerkirche in Esslingen, Blarerplatz/ Franziskanergasse 4 zu sehen. Sie ist eine Gemeinschaftsarbeit der Beratungsstelle Amalie und des Fotografen Hyp Yerlikaya. Konzipiert und erstellt wurde sie in Zusammenarbeit mit den Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim.