Tobias Schleuning (l.) fährt grundsätzlich auf Autostraßen. Wie Christian von Holst (r.) wünscht er sich, dass Fußgänger und Radler mehr Raum in Stuttgart bekommen. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski
Vor sechs Jahrzehnten wurde Stuttgart zu einer autogerechten Stadt umgebaut. Gibt es einen Weg zurück? Unterwegs mit zwei Männern, die 60 Jahre trennen und die einen gemeinsamen Wunsch haben.
Tobias Schleuning hat sein Rad speziell ausgerüstet: vorne der zweite Gepäckträger mit Hartschalen-Box, hinten das Bremslicht mit Neun-Volt-Batterie, die Hupe am Lenker und die goldene Schleife hinten am Rahmen. Dieser Look ruft stumm: Achtung, ich bin ein Fahrrad! Sein Gefährt ist sein Gefährte, mit ihm traut sich Tobias Schleuning auch auf die gefährlicheren Strecken der Stadt. „Mein Vater hat gesagt, ich soll mir ein Auto kaufen, das wäre sicherer. Da kann ich nur den Kopf schütteln.“ Dabei radelt er erst seit zwei Jahren oft und gerne.
Der 21-Jährige steht mit dem aufgemotzten Fahrrad Marke Eigenbau an der Ampel am Stuttgarter Neckartor, vor dem ADAC, und wartet auf Grün. Er will in den Westen, wo er ein Praktikum bei einer Fernsehproduktion macht. Aber er biegt nicht rechts ab auf den Radweg durch den Schlossgarten. Er bleibt leicht links auf der rechten Autospur. Mit dieser Route ist Tobias Schleuning die absolute Ausnahme. Ein verlorener Drahtesel auf der Stadtautobahn. Das traut sich fast keiner.
Schneller unter Autos als auf dem Radweg
Einerseits fordert Schleuning neue Radwege, andererseits meidet er sie. Warum? So wie Stuttgart gebaut sei, sei er unter Autos mit 25 Sachen unterwegs. „Auf dem Radweg komme ich auf eine Reisegeschwindigkeit von vier bis fünf Kilometer pro Stunde.“ Entweder weil eine Schulklasse, die zum Landtag läuft, die Route verstopft. Oder weil gefühlt halb Stuttgart auf dem schmalen Radweg rollt. Der Radverkehr hat sich in der Stadt in den vergangenen fünf Jahren verdoppelt. Auf den Hauptverkehrsachsen bleibt das unsichtbar. Fußgänger und Radler quetschen sich gemeinsam durch die Randzonen, durch Unterführungen, über unzählige Ampeln.
An der Heilbronner Straße, der Hauptstätter Straße, der Theodor-Heuss-Straße und wie die Asphaltbänder alle heißen lässt sich ablesen, welche Art von Verkehr hier Vorfahrt hat. Als Hauptschlagadern führen zwei Bundesstraßen mitten durch die City. Stuttgart ist für Autos gebaut, als autogerechte Stadt. Dieser Begriff geht auf Hans Bernhard Reichow zurück, ein Stadtplaner und Architekt, und seine 1959 veröffentlichte gleichnamige Publikation.
Foto: privat/Haus der Geschichte Baden-Württemberg
Der Zeitgeist war damals so, dass Autos die Herzen zuflogen. Sie wurden zum Freiheitsversprechen, zum Hauptdarsteller, die Gesellschaft rollte ihnen den Teerteppich aus. Stuttgart hat in etwa so viele Straßenkilometer wie vom Fernsehturm nach Konstanz. Knotenpunkte wie der Charlottenplatz oder Untertunnelungen wie an der Hauptstätter Straße waren seinerzeit der letzte Schrei. Ein Zeichen des Fortschritts. Der Autoverkehr sollte ungehindert fließen wie das Blut im Herz-Kreislauf-System.
Die Autoliebe lebt auch 2025 fort. Mit knapp 50 Millionen Fahrzeugen sind so viele Autos beim Bundeskraftfahrtsamt registriert wie nie. Und doch hat sich über die vergangenen 70 Jahre und viele Verkehrsinfarkte, Bypässe und Lärmaktionspläne später der Blick darauf verändert. Mehr als jeder zehnte Stuttgarter hat Messungen zufolge ein zu lautes Zuhause wegen des Straßenverkehrs. Die Lärmwerte steigern laut Stadt das Risiko für – kein Scherz – Herz-Kreislauf-Leiden.
Christian von Holst ist seit 50 Jahren in Stuttgart
Für Professor Christian von Holst sind die Verkehrsschneisen keine Lebensadern, sondern offene Wunden, „ein Elend“. Man müsse daran arbeiten, die Stadt zusammenzubinden und wieder mehr Ruhe reinzubringen, sagt er. Seit er in Stuttgart lebt, und das sind 50 Jahre, hält er der Stadt den Spiegel ihrer Autogerechtigkeit vor.
Der ehemalige Leiter der Staatsgalerie ist „kräftig über 80“, wie er sagt. Und er erinnert sich noch gut, wie er 1975 aus Florenz nach Stuttgart an die Staatsgalerie kam, zunächst als Konservator. Die Klett-Passage wurde damals gerade gebaut. „Das war ein Horror.“
Frisch aus Bella Italia habe er sich kaum daran gewöhnen können, es in seinem Büro an der Stuttgarter Wagenburgstraße nur bei geschlossenem Fenster auszuhalten. Die großen Achsen waren damals schon gebaut. Er kennt sein Stuttgart nicht anders. Dass er trotz des Kulturschocks bis heute geblieben ist, spricht ja eigentlich für Stuttgart. Na ja, vielleicht am ehesten für sein Viertel.
Christian von Holst kommt geradezu ins Schwärmen, als er von seiner Wohnstraße im Stuttgarter Westen erzählt. Seit mehr als 40 Jahren lebe er dort. Um die 40 Leute sind in ihrer Whatsapp-Gruppe. Sie machen Feste in der Garageneinfahrt, schenken sich Sachen, Christian von Holst hat den Schlüssel mehrerer Nachbarn. In seinem Viertel ist die Welt in Ordnung. Seine Frau, die 2024 verstorben ist, ist auf dem Pragfriedhof begraben. Sein Familiennachlass lagert im Hauptstaatsarchiv. Er sagt, er habe sich endgültig für Stuttgart entschieden. „Das heißt aber nicht, dass ich nicht sehe, was für Probleme diese Stadt hat.“ Und die heißen seiner Meinung nach vor allem Durchgangsverkehr. „Aber damit will sich keiner auseinandersetzen.“
Tobias Schleuning fährt lieber auf der Autostraße als auf dem Radweg. Das hat Gründe. Foto: Lichtgut/Leif Piechowski
Während er das sagt, sitzt Christian von Holst bei einem Cappuccino vor einer Döner-Bude neben der Leonhardskirche. In seinem Rücken donnert die Bundesstraße. Er schaut sich kurz über die Schulter und fragt dann: „Muss man das hinnehmen?“ Jahrzehnte beschäftigte er sich auch mit der Stuttgarter Stadtentwicklung. Wenn er Fotos von dieser Stelle der Hauptstätter Straße von 1905 und von heute nebeneinanderlegt, erstaunt es ihn immer noch. „Hammerhart“, sagt er.
Groß einbringen will sich Christian von Holst heute nicht mehr. „Ich bin kein Stadtplaner, ich bin Kunsthistoriker“, sagt er. „Und ich bin ein alter Knacker.“ Man müsse die Jungen fragen: „Wie wollt ihr leben?“ Und dann müsse man sich die fähigsten Leute suchen. „Wenn es um eine OP geht, dann hole ich doch auch den besten Chirurgen.“ Und in Stuttgart geht es um eine Operation am offenen Herzen.
Umgestaltung der B14 geplant
In seiner Publikation „Zur Genese der autogerechten Stadt“ von 2024 schreibt Harald Kipke, „dass die Dogmatisierung der Alternativlosigkeit des Automobils den Raum, Neues zu denken, ungemein einschränkt, was im Zeitalter des Klimawandels zu einem ernsten Problem wird“. Städte müssen sich neu erfinden, Räume anders verteilen. Doch sie sind einbetoniert im Korsett des Zeitgeists der 1970er-Jahre. Harald Kipke glaubt, dass dieser Zustand nur disruptiv zu sprengen wäre.
Es wäre verkehrt, zu sagen, dass sich in Stuttgart überhaupt nichts bewegt. 2023 hat die Stadt die Urban Future ausgerichtet, 2000 Besucher aus 72 Ländern, die sich Gedanken zur Zukunft von Städten machen, waren da. Und es gibt auch in Stuttgart große Pläne. Die Umgestaltung der B 14 etwa. Auf fünf Kilometern, zwischen Mineralbädern und dem Marienplatz, sollen die Karten neu gemischt werden. Vor allem der Autoverkehr soll dafür stark reduziert werden.
Die Wettbewerbsgewinner, die Arbeitsgemeinschaft asp Architekten und Koeber Landschaftsarchitekten, sagen, ihre Aufgabe sei es gewesen, „den begonnenen Paradigmenwechsel – weg von der autogerechten, hin zur menschengerechten Stadt – weiter umzusetzen“. Christian von Holst hat dem B14-Projekt 2019 ein Büchlein mit vielen Fotos gewidmet. Er zuckt mit den Schultern. „Bisher ist nichts passiert.“
Das es geht, zeigen andere: Barcelona, Kopenhagen, Gent, Wien und natürlich Paris. Seit einigen Jahren wandelt sich die einstige Autostadt – zwar nicht konfliktfrei, aber gerade haben die Pariserinnen und Pariser zugestimmt, 500 weitere Straßen anzupacken. In Stuttgart zanke man sich sogar wegen eines ein paar Straßen breiten Superblocks, sagt Christian von Holst und denkt laut: „Himmel, macht euch doch nicht ins Hemd.“
Tobias Schleuning ist 60 Jahre jünger. Und dass er ein Stuttgart in Neu fordert, hat bei ihm erst gerade angefangen. Er gehört zu denen, die Christian von Holst fragen würde. Der 21-Jährige hätte eine Antwort: „Die Infrastruktur muss sich verändern, dann ändert sich das Verhalten.“
Pop-up-Radweg auf Fotos gekritzelt
Er steht jetzt am Gebhard-Müller-Platz, vielleicht Stuttgarts hässlichstem Ort. Drüben, beim Arnulf-Klett-Platz, hupt einer. Die Hand von Tobias Schleuning wandert automatisch zur Tröte am Lenker, er lässt sie zweimal aufjaulen. Ein Sound voller Trotz. Aus Frust sei er vor Kurzem dem Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Club (ADFC) beigetreten, erzählt er. Weil er gemerkt habe, dass er allein nicht weiterkommt. Dass es Zeitverschwendung ist, der Stadt Fotos von Straßen zu schicken, auf die er mögliche Pop-up-Radwege kritzelt.
Manchmal macht er aber auch Einzelaktionen, wie neulich in Bad Cannstatt. Da hat er nachts mit Sprühkreide Sprüche und Umrisse einer Leiche auf die Schmidener Straße gemalt. Damit wollte er auf eine gefährliche Stelle für Radler aufmerksam machen, sagt er. Dass er seitdem auch als Aktivist bezeichnet wird, schmeichelt ihm. „Das ist ein Kompliment, weil es bedeutet, dass man sich für eine bessere Welt einsetzt.“