Er ist Künstler, Lehrer, Autor und Philosoph. Dass der Stuttgarter Harry Walter nur einem kleinen Publikum bekannt ist, liegt auch daran, dass er sich als Person gerne entzieht. Der StZ-Autor Georg Leisten ist ihm in Stuttgart begegnet.

Stuttgart - Sie wollen etwas über mich schreiben? Das wird aber nicht einfach!“ Harry Walter beginnt das Gespräch gleich mit einem Warnschuss. „Das Problem bei mir sind die vielen Parallelbaustellen“, klärt er den Journalisten auf. In der Tat – wer versucht, den Allrounder einzuordnen oder gar zu verschlagworten, scheitert oft schon bei der Suche nach einer treffenden Berufsbezeichnung. Ist Walter nun Künstler, Autor, Philosoph oder vielleicht doch einfach nur Lehrer?

 

Obschon der gebürtige Stuttgarter seit Ende der siebziger Jahre ausstellt, schreibt und kuratiert, daneben an renommierten Institutionen unterrichtet hat, ist sein Name allenfalls einigen eingefleischten Kulturfreunden ein Begriff. Gewiss, er kleidete Marmorbüsten mit Speck ein, betrieb Forschungen zur Ornamentgeschichte und wirkte als Mitglied des Kollektivs SOUP (Stuttgarter Observatorium urbaner Phänomene) an unkonventionellen künstlerisch-politischen Protestaktionen gegen Stuttgart 21 mit. Bei all dem aber hat Harry Walter sich als Person meist entzogen.

Verzicht ist manchmal die bessere Option

Einmal wagte der heute Sechzigjährige sogar, was nicht einmal ein Gerhard Richter gewagt hätte: 1992 schlug das intellektuelle Multitalent die Einladung Jan Hoets zur Documenta aus. „Die Absage“, betont Walter, „war nicht Teil einer Inszenierung oder Protestgeste eines Frustrierten.“ Es habe zu diesem Zeitpunkt einfach kein passendes Werk gegeben, dass man guten Gewissens nach Kassel hätte schicken können. Die Geschichte an die große Glocke zu hängen ist ihm mittlerweile aber gar nicht mehr recht: „Genauso bescheuert wie die Berufung auf eine Documenta-Teilnahme wäre die Berufung auf eine Nichtteilnahme. Damit unterstützt man nur wieder die Denke, von der ich mich gerade absetzen will.“ Der Vorbehalt gegen die herkömmliche Kategorie von Bild, Skulptur oder Film, aber auch gegen den „wahnsinnigen Raumverbrauch“ der Installationen bestimmt seit Längerem die konzeptuelle Haltung des integrierten Außenseiters. „Nicht alles Machbare muss gemacht werden.“ Verzicht ist für Walter manchmal die bessere Option. „Das kann die Gentechnik oder die Atomphysik noch von der Kunst lernen.“

Während seiner Zeit als Deutschdozent in Japan entdeckte er in einem Tokioter Museum per Zufall eine Bildrolle aus dem 17. Jahrhundert, die ihn tief beeindruckt hat. Die Fläche war komplett leer – bis auf jene kleine Inschrift: „Die höchste Vollendung der Malerei ist das Nichtmalen.“ Eine Erkenntnis, die Walter zum Kritiker landläufiger Vorstellungen von Kreativität werden ließ. „Avantgardestress“ nennt er das, von dem er sich schon lange verabschiedet hat. Die Vorstellung, beständig Neues aus sich herauswürgen zu müssen, führe in eine Sackgasse. Mit Tabubrüchen wie Jonathan Meeses Hitlergruß überspielten viele Gegenwartskünstler nur, dass die Zeit für Innovationen vorbei sei. Walter bevorzugt Kollegen wie Georg Winter, der sich der trivialen Überproduktion von Bildern widersetzt, indem er Kameras aus Holz baut. „Der Fluss der Moderne“, formuliert Walter sprachlich bildstark, „ist im Mündungsdelta angekommen. Ob das Wasser noch nach vorne fließt oder wieder zurück, ist nicht mehr zu unterscheiden. Es gibt keine Alternative zum Epigonentum.“

Die Kunst zieht sich zurück

Auf diese Einsicht reagierte nicht zuletzt das „Archiv beider Richtungen“, kurz ABR. So der Name des von Walter mit aus der Taufe gehobenen Künstlerquartetts, das sich 1982 zusammenfand und später von Walter und René Straub bis 2007 als Duo fortgeführt wurde. Gemeinsam sichtete man das Vergangene in Kunst und Alltagskultur. Mit den ABR-Auftritten, wie man sie in der ehemaligen Galerie der Stadt Stuttgart oder dem Frankfurter Kunstverein erleben konnte, hörte die Kunst auf, Wände in Beschlag zu nehmen. Was heute auf allen Bi-, Tri- und Quadriennalen der Kunstwelt begegnet, hat nicht zuletzt bei Straub/Walter seinen Anfang genommen: die Kunst zieht sich zurück in die Publikationen, die Zettelkästen, die Aktenordner. „Einfaltung“ nannte das der Philosoph Peter Sloterdijk, den ABR einmal als Eröffnungsredner gewinnen konnte.

Dass Walter die Emanzipation vom Objektcharakter stets noch etwas radikaler gesehen hat als sein Weggefährte, trug letztlich zum Ende von ABR bei. Geteilter Meinung waren die beiden etwa, als es um den Ankauf eines mit Erinnerungsrequisiten bestückten Regals durch das Stuttgarter Kunstmuseum ging. „Für mich funktionierte dieses Ensemble nur im Kontext unserer Aktionen, nicht als autonome Skulptur“, rechtfertigt Walter seine Weigerung zu verkaufen.

Mit Wort und Witz gegen S21

Bei all dem weiß er sehr wohl, dass die kommerzielle Erfolglosigkeit der Preis für künstlerische Konsequenz ist. In den neunziger Jahren versuchte er sich einmal an einer ökonomischen Bilanz des eigenen Tuns. 56 DM Monatslohn als Künstler waren das ernüchternde Endergebnis. Dennoch wirkt Walter nicht wie jemand, der mit seinem Schicksal hadert. Lehr- und Vortragstätigkeit haben ihm immer ein Auskommen gesichert. Und so berichtet er auch nach vierzig meist brotlosen Künstlerjahren immer noch mit der Verve eines jugendlichen Überzeugungstäters von seinen Vorhaben.

SOUP wird er weiter mit Witz und Wort gegen S 21 unterstützen, er möchte den Nachlass des Vaters, eines bekannten Stuttgarter Gastronomen, katalogisieren und eine seit Längerem geplante Aktion durchführen, in der er die Stadtgeschichte mit seiner eigenen Kindheit kurzschließt. Unweit der elterlichen Wohnung, am Galgenbuckel, befand sich die Stelle, an der im 18. Jahrhundert Joseph Süß Oppenheimer hingerichtet wurde. Die Waschküche, die heute dort steht, möchte Walter nun in einen alternativen Erinnerungsort verwandeln. Exponenten des lokalen Kulturlebens wie Joe Bauer haben bereits die Teilnahme zugesagt, aber auch die Anwohner dürfen sich interaktiv einbringen. Für Walter wieder eine Gelegenheit, sich zurückziehen.