In der schnelllebigen politischen Welt haben die professionellen Leser aus den Medien die über 700 Seiten nach anstößigen Stellen durchforstet wie früher Pubertierende etwas freizügigere Romane nach pornografischen Szenen. Was sagt sie zu ihrer Entscheidung, 2015 die Grenzen für Geflüchtete aus Syrien zu öffnen? Geht sie in Sack und Asche? Entschuldigt sie sich für ihr Handeln während der Corona-Krise?
Die DDR und ihr kleingeistiges, autoritäres Regime
Wer solches in den Memoiren der Ex-Kanzlerin erwartet hatte, dürfte das Buch rasch beiseitegelegt haben. In Wirklichkeit lohnt sich die Lektüre. Das gilt nicht zuletzt für die persönliche Seite von Angela Merkel, die sie im Berliner Politikbetrieb weitgehend vor der Öffentlichkeit abgeschirmt hatte. Im ersten Teil des Buches erzählt sie nun von ihrer Jugend und den ersten beruflichen Jahren in der DDR.
Und auch das haben viele offenbar schon vergessen – vor allen Dingen in bestimmten Kreisen Ostdeutschlands: Was für ein kleingeistiges, miefiges und autoritäres Regime in der DDR herrschte. Wenn ein paar Schülerinnen und Schüler der Abschlussklasse der Oberschule einen literarischen Klassiker mal nicht ganz linientreu inszenierten, mussten die Beteiligten um ihren Studienplatz bangen. Und wer, wie Angela Merkel, ihr Physikstudium mit sehr guten Leistungen abschloss, bekam nur dann ein „Sehr gut“ als Note, wenn sie in Marxismus-Leninismus mindestens eine Zwei erreichte.
Aus Fehlern hat sie schnell gelernt
Das Misstrauen gegenüber Politikerinnen und Politikern ist in den letzten Jahren enorm gewachsen. Sicherlich: Es gibt unter ihnen Zyniker der Macht (übrigens hauptsächlich dort, wo sie sich besonders volkstümlich präsentieren). Aber viele Verantwortliche nehmen ihre Aufgabe sehr ernst. Sicherlich hat die Kanzlerin in ihren Memoiren manche Versäumnisse unter den Tisch gekehrt und ihr Handeln in einem guten Licht erscheinen lassen – aber wer macht das bei seiner Lebensgeschichte nicht?
Doch man glaubt ihr bei der Lektüre, dass sie ihren Auftrag, dem deutschen Volk zu dienen, ernst nahm, dass sie ihre Entscheidungen abwägte, rationalen Argumenten zugänglich war und aus ihren Fehlern sehr schnell und effizient gelernt hat. Das kann man nicht über jeden Politiker sagen – und auch nicht über jeden Arbeitskollegen, Nachbarn, Freund oder sich selbst.
Angela Merkel hat es als Ostdeutsche bis ins zweithöchste Amt der Bundesrepublik geschafft. Manches daran ist Zufall und Glück – so war sie gerade im richtigen Augenblick präsent, als Wolfgang Schnur vom „Demokratischen Aufbruch“ eine Pressesprecherin brauchte, und schwups, war sie es. Allerdings hat Merkel ihre Chancen stets ergriffen. Andere in den neuen Bundesländern haben ihr Schicksal eher über sich ergehen lassen und sich in Selbstmitleid, Groll und Frustration eingerichtet.
Steffen Mau, Professor für Makrosoziologie an der Humboldt-Universität, beschäftigt sich in seinem Bestseller „Ungleich vereint: Warum der Osten anders bleibt“ (Spiegel-Bestseller Sachbuch Paperback Platz 13, Suhrkamp, 174 Seiten, 18 Euro) damit, wie aus diesem Sondermilieu inzwischen eine echte Gefahr für die Demokratie geworden ist – weil sich Rechtsnationale dieser Gefühle bedient und sich in der ostdeutschen Gesellschaft eingenistet haben. Dabei ist der Autor schonungslos in seiner Analyse. Er zeigt aber Verständnis, dass westdeutsches Auftreten im Osten ein Gefühl der Zurücksetzung hervorgerufen hat.
Die Abschottung macht alles noch viel schlimmer
Maus kühler, klarer Blick rückt die Selbstbejammerungsperspektive eines Dirk Oschmann („Der Osten: eine westdeutsche Erfindung“) zurecht. So zeigt er etwa, dass das Klima der Fremdenfeindlichkeit und Abschottung in den Dörfern und Kleinstädten Ostdeutschlands angesichts des demografischen Absturzes die Lage nur noch schlimmer macht. Die in weiten Teilen autoritär-demokratische und nicht partizipativ-demokratische Stimmung im Osten bereitet dem Wissenschaftler erkennbar Sorge. Sein Gegenmittel, die Einführung von Bürgerräten, mag angesichts der Bedrohungen etwas naiv klingen – aber immerhin ist es besser als Nichtstun und das Warten auf die Katastrophe. Frustrierend jedenfalls ist es, dass 16 Jahre einer ostdeutschen Kanzlerin dem Osten nicht das geschenkt haben, was man sich wünschen würde: ein Gefühl für Freiheit.