Der rechtsradikale Täter in Hanau tötete am 19. Februar 2020 Said Etris Hashemis kleinen Bruder Said Nesar und viele seiner Kindheitsfreunde. Er selbst erlitt mehrerer Schusswunden. Im Württembergischen Kunstverein stellte er sein Buch „Der Tag, an dem ich sterben sollte“ vor.
„Ich bin eigentlich ein lockerer Mensch“, sagt Said Etris Hashemi bei seiner Lesung im Württembergischen Kunstverein. Er ist schwarz gekleidet, trägt weiße Turnschuhe. In der Hand hält er sein Buch „Der Tag, an dem ich sterben sollte“ auf dessen Cover er mit nacktem Oberkörper und geschlossenen Augen den Kopf hebt. Der Betrachter sieht die vernarbten Schusswunden auf Hals und Schulter, die ihm der rechtsradikale Attentäter in Hanau zufügte, der auch seinen kleinen Bruder und viele seiner Kindheitsfreunde tötete.
Über die Geschehnisse am 19. Februar 2020 selbst wird er nicht sprechen, kündigt Hashemi am Anfang der Veranstaltung an. Das sei für ihn zu emotional, sein Fokus liege darauf, „was drumherum passiert ist“, so der Sohn afghanischer Geflüchteter. Dabei geht es vor allem um den politischen Kampf den er, durch die Tat zum Aktivisten geworden, seit fast fünf Jahren führt.
An die Öffentlichkeit zu treten, sei für ihn ein langer Prozess gewesen, sagt der mittlerweile 28-Jährige. Die Aufmerksamkeit, die er als Opfer bekam, sei ihm zunächst extrem unangenehm gewesen. Er sei soweit wie möglich untergetaucht, löschte seine Social Media-Accounts. Hoffte, dass die Leute mit der Zeit vergessen, wer er ist.
Als sich die Ermittlungen des Generalbundesanwalts für die Betroffenen und Angehörigen der Attentatsopfer nach langem Warten und Hoffen als enttäuschend herausstellten, beschlossen diese, die Sache selbst in die Hand zu nehmen: „Wir wurden selber zu Ermittlern“, sagt Hashemi. Was dabei ans Tageslicht kam, bezeichnet er als „die Kette des Versagens“. So war die Notausgangstür der Arena Bar, einer der Tatorte, abgesperrt, um deren Besuchern die Fluchtwege bei Polizeirazzien abzuschneiden. Wäre sie offen gewesen, hätte das Leben retten können. Auch, dass 13 der 19 Polizisten im SEK-Team, das schließlich in das Haus des Täters eindrang, an rechtsradikalen Chatgruppen teilnahmen, sei bei den so initiierten Untersuchungen herausgekommen.
Mehrheit des eingesetzten SEK-Teams war rechtsradikal
Immer wieder berichtet Hashemi davon, wie Behörden und Politiker sie nicht ernst nahmen, ihnen auf dem Weg zur Wahrheitsfindung eher Steine in den Weg gelegt als Brücken gebaut hätten. Die Polizei habe ihnen, frisch aus dem Krankenhaus entlassen, sogar eine Gefährderansprache gehalten: Sie sollten den Vater des Täters nicht angreifen.
Täter-Opfer-Umkehr
Hashemi sagt, ihm sei unter anderem dadurch klar geworden, wie die Polizei über ihn und seine Mitstreiter denke: Sie seien eben „Kanacks“, die wieder irgendeinen Racheakt planten. Eine politische Aufklärung liege noch weit entfernt, sagt Hashemi: „Die einzigen, die Konsequenzen davon getragen haben, sind wir gewesen.“Iris Dressler, Direktorin des Kunstvereins, spricht in ihrer Moderation von Täter-Opfer-Umkehr und doppelter Viktimisierung: Die Betroffenen seien nicht nur durch das Attentat, sondern auch durch rassistische Strukturen von Polizei und Behörden zu Opfern worden.
Im Württembergischen Kunstmuseum zeigt sich die enorme Resonanz auf Hashemis Arbeit. Man habe mit 70 Besuchern gerechnet, gekommen sind 130, sagt Kai Bliesener vom Theaterhaus, das die Veranstaltung mitorganisierte. Auffällig viele junge Besucher sind gekommen. Aus der Mildred-Scheel Schule Böblingen sitzen ganze Schulklassen im Publikum. Eine Schülerin fragt, ob der Erfolg des Buches – ein Spiegel-Bestseller – für ihn eine Art Genugtuung sei.
Hashemi hinterfragte Alltagsrassismus erst nach dem Attentat
Er sei schon mit dem Bewusstsein aufgewachsen, in Deutschland ein Mensch „zweiter Klasse“ zu sein, sagt Hashemi. Er habe nur migrantische Freunde gehabt. Dass sie als Migranten ein Vielfaches mehr leisten müssten, um das gleiche zu erreichen wie Deutsche ohne unmittelbare Migrationsgeschichte, sei für ihn normal gewesen. Diese Beurteilung habe er erst nach dem Attentat hinterfragt, sagt er.
Somit spreche er „stellvertretend für so viele Menschen in diesem Land“ und versuche, dieser Verantwortung gerecht zu werden. Im Rampenlicht zu stehen, möge er immer noch nicht. Nach dem Attentat habe er allerdings auch „extrem viel Solidarität aus der Gesellschaft gespürt“. Das habe ihm die Hoffnung gegeben: „Wir können vielleicht doch irgendwas in diesem Land verändern.“
Said Etris Hashemi Buch „ Der Tag, an dem ich sterben sollte“ ist im Hoffmann und Campe Verlag erschienen und kostet 23 Euro. Das Theaterhaus-Schauspiel zeigt die Dokumentar-Produktion „And now Hanau“ erneut am 8. und 9. November, jeweils um 19.30 Uhr in Halle T3.
Veranstaltung zu Hanau
Lesung
Am Montag, 11. November 2024, 19.30 Uhr liest Mohamed Amjahid im Württembergischen Kunstverein aus seinem Buch „Alles nur Einzelfälle?“.