Buchtipp: Isabelle Lehn, „Die Spielerin“ Doppelleben einer Unscheinbaren

Man möchte gar nicht wissen, wer am anderen Ende der Leitung spricht. Foto: IMAGO/Panthermedia/iofoto

Isabelle Lehn ist einem tatsächlichen Kriminalfall mit den Mitteln der Literatur auf den Grund gegangen. Ihr neuer Roman treibt ein verblüffendes Spiel mit der Wirklichkeit – Ausgang offen.

Kultur: Stefan Kister (kir)

Vor sechs Jahren veröffentlichte der Investigativjournalist und Mafia-Experte Sandro Mattioli einen Artikel darüber, wie die kalabrische ’ndrangheta möglicherweise 2004 versucht hatte, die in finanzielle Nöte geratene Nachrichtenagentur ddp zu kaufen. Ein angeblicher Investor hatte angeboten, dem Unternehmen mit drei Millionen Euro unter die Arme zu greifen. Den Kontakt hatte eine Mitarbeiterin eingefädelt, die offenbar ein abenteuerliches Doppelleben führte: als unscheinbare Teilzeitkraft in der Telefonakquise der Agentur und als ausgebuffte Fachfrau für komplexe Geldwaschanlagen im Dienst der organisierten Kriminalität. Als sich der Übernahmeversuch zerschlagen hatte, wurde ddp ein Fall für den Insolvenzverwalter. In der Räuberpistole aber, die Mattiolis Recherche enthüllt hat, steckt ein Roman. Und den hat die Autorin Isabelle Lehn nun befreit.

 
Isabelle Lehn Foto: Verlag/Jasmin Zwick

Damit wäre in groben Zügen schon einmal geklärt, um was es in „Die Spielerin“ geht. Die Titelfigur, die hier nur unter der Anonymisierung A. auftritt, teilt viele Züge mit jener Protagonistin des True Crime. Umso wichtiger ist es, gleich festzuhalten, um was es nicht geht: Um die Erzeugung jenes behaglichen Grusels, der erst voll auf seine Kosten kommt, wenn die voyeuristische Teilhabe an kriminalistischen Absonderlichkeiten durch das Echtheitssiegel „nach einer wahren Begebenheit“ veredelt wird. Für Isabelle Lehn dagegen ist die Suche nach dem Wahren im Realen Aufgabe der Literatur. Man könnte ihren Roman als Fortsetzung der Recherche mit anderen Mitteln begreifen. Denn selbst wenn die Fakten scheinbar offen zutage liegen, bleiben die Hintergründe im Verborgenen.

Vor männlichem Selbstgefühl strotzende Berufswelten

Mehr als das Ende hat man nicht in der Hand, heißt es im Prolog: „Man muss die losen Fäden gut festhalten, um auch den Rest des Knäuels zu entwirren.“ Vor Gericht schweigt A., eine Frau mittleren Alters aus der niedersächsischen Provinz, deren Merkmal ihre Durchschnittlichkeit zu sein scheint. Also muss wohl die Erzählung übernehmen. Sie tut dies in drei Etappen. Die erste beleuchtet die Zeit, in der es zum Konkurs des Unternehmens kommt, das hier Deutsche Nachrichtenagentur heißt. Man lernt den Stuttgart-Korrespondenten kennen, den beunruhigende Gerüchte aus der Berliner Zentrale erreichen, ein Memo der Geschäftsleitung, er ahnt, dass nichts besorgniserregender ist, als das Versprechen, keinen Anlass zur Besorgnis zu haben. Alle marschieren sie auf, der Chefredakteur, der die Agentur von einem bankrotten Münchner Medienunternehmer übernommen hat, sein schnöseliger Wirtschaftsberater, der gönnerhaft den Deal mit dem windigen Hochstapler einfädelt, den ihm ausgerechnet jene unscheinbare Randfigur, eine Telefonistin, vermittelt hat.

In brillanten Skizzen gewinnen von saturiertem männlichem Selbstgefühl strotzende Berufswelten Kontur, die von A.s Intervention gründlich durchgeschüttelt werden. Doch als feministische Rächerin an patriarchalischen Herrschaftsformen wird man die Person nicht zu fassen kriegen, deren Ausbildung zur Investmentbankerin im Züricher Haifischbecken der Hochfinanz der zweite Abschnitt schildert. Es sind die Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs, in denen das Fell des Bären neu verteilt wird: „A. wusste, was ihnen bevorstand: ein riesiges Umverteilungsprogramm, eine Privatisierungswelle, von der nur einige wenige profitieren.“ Und sie wusste, dass die Banken dazugehören würden.

Kapital im Stand der Unschuld

Sie lernt die Sprache jener mit Koks und Testosteron aufgepumpten Player, die sie anfangs ignorieren und demütigen, eine Sprache der Maßlosigkeit, die Wörter wie „genug“ oder „stopp“ nicht kennt. Doch dem Solidarisierungseffekt mit A. seitens der Lesenden steht entgegen, dass sie das große Spiel mitspielt, dem die kapitalistische Kolonisierung künftiger blühender Landschaften ein neues Terrain erschlossen hat. Neben ihrer Kenntnis aller finanzmagischer Kniffe zur Geldvermehrung, setzt sie ihre Superkraft gewinnbringend ein, sich von andern unterschätzen zu lassen.

Und so werden schließlich auch die auf sie aufmerksam, die sich im dritten Teil aus der erzählerischen Deckung wagen. Mit ihnen bekommt das gemütvolle „Wir“, das bisher durch das Geschehen geführt hat, plötzlich einen anderen Klang. Es ist die ehrenwerte Gesellschaft, die in der Unauffälligkeitsvirtuosin die geeignete Maskierung findet, in der aus dunklen Kanälen stammendes Geld in den Stand der Unschuld versetzt werden kann. Zum Beispiel durch den Kauf einer Nachrichtenagentur.

Die Aufsplitterung der Perspektiven, die in dem kollektiven „Wir“ aufgehoben wird, besetzt die vakante Position einer auktorialen Instanz, die alles im Griff hat. Dass die Fäden in einem Netzwerk der organisierten Kriminalität zusammenlaufen, ist die kühne Pointe, mit der diese Geschichte den denkwürdigen Einzelfall hinaus ins Feld der ökonomischen, politischen und sozialen Kräfte spielt, die in der Gegenwart miteinander ringen.

Und A.? Verlässt sie am Ende das Vabanque-Spiel nicht doch als Siegerin? Sie bleibt eine Leerstelle im Dickicht der Zuschreibungen, nach ihrer Haft verliert sich die Spur in einem Offshore-Paradies. Aus dem getäuschten Agenturchef aber wird schließlich wieder ein guter Journalist. Wie es aussieht, wartet viel Arbeit auf ihn.

Isabelle Lehn: Die Spielerin. S. Fischer Verlag. 275 Seiten, 25 Euro.

Info

Autorin
Isabelle Lehn wurde 1979 in Bonn geboren und lebt heute in Leipzig. Sie hat in Tübingen in Rhetorik promoviert.

Werk
Ihr Debüt „Binde zwei Vögel zusammen“ handelt von einem jungen Statisten in einem Trainingscamp der Bundeswehr für den Afghanistaneinsatz, der seine Rolle nicht mehr los wird. Zuletzt erschien ihr autofiktionaler Roman „Frühlingserwachen“. Für ihre literarische Arbeit erhielt Isabelle zahlreiche Preise, zuletzt den Dietrich-Oppenberg-Medienpreis für ihren Essay „Weibliches Schreiben“.

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