Charlotte Kretschmann war die älteste Frau Deutschlands, am Dienstag ist sie in Kirchheim unter Teck gestorben. Unsere Autorin hatte sie im vergangenen Jahr besucht. Eine Erinnerung.

Sind meine Haare gut?“, fragt Charlotte Kretschmann und zupft an ihrer Bluse. Sie schiebt die Ärmel nach oben und streicht die Falten am Saum glatt. Die Perlmuttkette, die sich an ihr Schlüsselbein schmiegt, glänzt im selben Ton. Ihr Enkel Jürgen reicht ihr eine Serviette, steht kurz auf und schiebt den Rollstuhl näher in Richtung Tischkante. Ihre Fingernägel sind rot lackiert, an beiden Händen trägt sie goldene Ringe. Sie hebt ihr Glas, nimmt einen Schluck Rotwein und schaut in die Runde: „Gut temperiert, schmeckt gut.“

 

Charlotte Kretschmann war die älteste Frau Deutschlands, in dieser Woche ist sie in Kirchheim unter Teck gestorben. Bis auf die beiden Enkel, Jürgen und Peter, hatte sie alle aus ihrer Familie überlebt. Geboren wurde sie am 3. Dezember 1909 in Breslau. Das war 17 Jahre, bevor Queen Elizabeth II zur Welt kam. Bei Hitlers Machtergreifung war Charlotte Kretschmann 24 Jahre alt, als der Krieg endete, 35. Als die Mauer gebaut wurde, war sie 51 und als sie fiel fast 80. Kurz nachdem Angela Merkel im November 2005 zur Kanzlerin gewählt wurde, feierte Charlotte Kretschmann ihren 96. Geburtstag.

Im vergangenen Jahr, als ich mich auf meinen Besuch bei ihr vorbereitete, fragte ich mich: Worüber spricht man mit einer Frau, die mehr Jahre miterlebt hat als alle anderen Deutschen? Mit jeder neuen Frage, die mir bei der Vorbereitung durch den Kopf geht, drohe ich an der Vielzahl der Themen zu verzweifeln. 114 Jahre, das ist einfach verdammt lange! Weltkrieg, Weltmeisterschaft, Währungswechsel. Internet, Corona, Klimakrise. Was davon hatte Bedeutung für Charlotte Kretschmann?

Ein Mittagsschläfchen bei ihrem Enkel

„Sind Sie froh, dass Sie heute mal rauskommen aus dem Heim?“, frage ich. Ein bisschen Small Talk zum Einsteigen. Wir sitzen in einem schwäbischen Gasthaus und essen zu Mittag. Jeden Sonntag holen Peter oder Jürgen ihre Oma im Seniorenheim ab, um den Tag mit ihr zu verbringen. Meistens bei Peter zu Hause. Dort macht Charlotte Kretschmann dann ein Mittagsschläfchen und kuschelt mit den beiden Chihuahuas Simba und Chloé. Doch letztens, da sei sie gestürzt, die Treppe heruntergefallen mit ihrem Rollator. Peter habe sie noch aus dem Augenwinkel gesehen und versucht, sie aufzufangen, doch es sei zu spät gewesen. Mehrfach wird sie sich während unseres Gesprächs das Knie reiben. Es schmerzt immer noch.

Jürgen hat seiner Oma die Kalbsleber in mundgerechte Stücke geschnitten, doch die bewegt ihre Gabel nur zaghaft. Immer wieder tupft sie sich mit einer Serviette den Mund. An beiden Mundwinkeln klebt eine rosafarbene Paste. Probleme mit der neuen Haftcreme, sagt Enkel Jürgen. Die von Aldi, die mochte sie nicht. Die neue von Edeka scheint besser zu funktionieren, bis auf die blöden rosafarbenen Reste. Jürgen und seine Oma wechseln sich ab: Einer tupft mit dem Taschentuch, einer mit der Serviette. „Ich bin noch sehr eitel, auch wenn ich keine 20 mehr bin“, sagt Charlotte Kretschmann und lacht. „Also, ich muss mir schon noch selbst gefallen.“ Und so tupft sie tapfer weiter, bis auch der letzte Rest Haftcreme verschwunden ist.

Fast 14 000 Follower bei Instagram

Sich gehen zu lassen, das kam für Charlotte Kretschmann auch im hohen Alter nicht in Frage. Auf ihr Outfit und die passende Frisur nimmt sie noch genauso gezielt Einfluss wie mit 20. Als ihre beiden Enkel sie an diesem Sonntag zum Mittagessen abholen und die Pflegerin mit einer Haarbürste an ihrem Hinterkopf ansetzt, ruft Charlotte Kretschmann: „Nein, nein, ich war doch gerade erst beim Friseur.“ Sofort streicht sie sich das Haar wieder in Form. Hinter ihr, an der Wand neben dem Fernseher, hängen drei meterhohe Ballons in glänzendem Pink. An Weihnachten und ihren Geburtstagen postet sie bei Instagram Fotos aus ihrem Leben. 13 900 Follower hat Charlotte Kretschmann auf der sozialen Plattform – womit sie auch die älteste Influencerin Deutschlands war.

Wenn Charlotte Kretschmann auf ihr Leben zurückblickt, kommen ihr oft die Kleider in den Sinn, die sie einst getragen hat. Zum Beispiel ein cremefarbenes Sommerkleid mit orangenen Rosen: Es erinnert sie an ihre Kindheit, insbesondere an ihre Mutter. Die hatte sich das Schneidern selbst beigebracht, nähte ihrer Tochter Schlüpfer aus den alten Cordhosen ihres Bruders und Kleidchen: „So hatte ich schon als Kind die schönsten Kleider, die man sich vorstellen kann. Einmal hat meine Freundin gesagt: ,Lotte, ich möchte gerne das Seidenkleid, was du auch hast.’ Doch die musste zum Schneider gehen und es sich dort anfertigen lassen.“

Ihre große Liebe lernt sie im Sportklub Schlesien kennen

Das Kleid, das die größte Bedeutung für sie hatte, war ihr Hochzeitskleid. Das wollte sie zuerst kaufen und stöberte mit ihrer Schwiegermutter in sämtlichen Geschäften Breslaus. Doch nichts habe ihr gefallen. „Und dann war es nur noch eine Woche, nur noch eine Woche, bis zur Hochzeit. Da hab ich gesagt: ,Mama, würdest du mir das Brautkleid nähen?’“ Und so trug Charlotte Kretschmann an ihrem Hochzeitstag ein weißes Kleid aus Seide, mit einer Schleppe und Ärmeln aus Spitze und einem kleinen Schlitz. Genäht von ihrer Mutter. Sie saß in einer weißen Kutsche und fuhr zur Johanniskirche in Breslau, in der sie auch getauft und konfirmiert worden war.

Ihren Mann hat Charlotte Kretschmann im deutschen Sportklub Schlesien kennengelernt. Beide waren Läufer: Sie lief 200 und 800 Meter, er 100 Meter. Er sei ihr aufgefallen, und sie ihm. Seine blonden Locken, ihre blauen Augen. Nach dem Laufen, beim gemütlichen Beisammensein, wurde getanzt. Lotte hat ganz ungeduldig gewartet, bis ihr Werner sie aufforderte. Beim Rausschmeißer passierte es dann endlich. Das nächste Mal war sie diejenige, die ihn zum Tanz bat. Und so ging es immer weiter: nach dem Sport zusammen tanzen gehen, bei Freunden nach dem Essen die Tische aus dem Weg räumen und tanzen. Nach ihrer ersten Begegnung treffen sich die beiden regelmäßig jeden Mittwoch. „Und dann war die Liebe perfekt – fürs ganze Leben.“

Wenn Charlotte Kretschmann über ihre Mutter oder ihren Mann spricht, dann schwappt die Zuneigung, die sie noch immer zu beiden fühlt, wie eine große Welle über den Tisch und reißt einen mit. Doch mitten in ihrer Erzählung über ihren Hochzeitstag ändert sich ihr liebevoller Ton plötzlich und pendelt sich irgendwo zwischen Empörung und Erheiterung wieder ein: „Also die Kirche, das ist auch eine Geldschneiderei. Man musste alles extra bezahlen. Sogar die Kirchenglocken. Wir haben gedacht das gehört doch zur Kirchenfeier dazu, die Glocken“, sagt sie und lacht. „Aber nee, die Glocken muss man extra bezahlen. Also gab es kein Glockengeläut bei uns.“

Sie lacht gern über ihre eigenen Witze

Charlotte Kretschmann erzählt am liebsten in Bildern. Ich stelle mir vor, wie sie in diesem Moment ihre eigene Silhouette im Hochzeitskleid vor sich sieht, wie sie die Hand ihres Mannes Werner hält. Sie erzählt die Erinnerungen in der Reihenfolge, in der sie ihr gerade in den Sinn kommen. Ganz egal, ob ihr Gegenüber ihren Gedanken in diesem Moment folgen kann. Wenn sie an Werner denkt, erzählt sie von Werner. Wenn sie ein Stück Kalbsleber aufspießt, dann sagt sie, dass sie eigentlich am liebsten Eisbein isst. Gekocht in einer Brühe aus Nelken, Lorbeeren, Möhren und Sellerie. Manchmal wird ihre Stimme lauter, dann wieder sehr leise. Das liege an ihrem Hörgerät, sagen die Enkel. Ich rutsche näher an sie heran, um sie besser verstehen zu können. Mein Kopf hängt schon fast über ihrer Kalbsleber.

Sie mustert meine Gnocchi mit Gemüse. „Essen Sie vegan?“ Ich nicke: „Meistens.“ „Joa, wem’s schmeckt. Da hab ich nichts dagegen.“ Ihr scheint es jedenfalls nicht zu schmecken. Sie pikst den Beilagensalat, legt die Gabel wieder beiseite. „Schmeckt’s Ihnen nicht?“, frage ich. – „Nee, das schmeckt mir nicht.“ – „Zu sauer?“, fragt Jürgen. „Nee, nicht zu sauer. Das schmeckt nach gar nichts. Das schmeckt wie Gras.“

Sie lacht über ihren eigenen Witz, schaut erst zu Jürgen, dann zu Peter: „Peterle, dir schmeckt’s auch nicht. Das weiß ich. Wenn’s dir schmeckt, dann isst du auf.“ – „Omi, nicht so laut. dich hört doch das ganze Restaurant!“, wirft Jürgen in ihre Richtung.

„Schön“ ist ihr Lieblingswort

Auf dem Weg zu Kaffee und Kuchen bei Enkel Peter ist der Beifahrersitz seines Mercedes bis zum Anschlag nach hinten gelehnt. Charlotte Kretschmann kann kaum noch über das Armaturenbrett schauen. Die Hände im Schoß ruhend sieht sie aus, als würde sie Bob fahren. Unter ihrem kleinen Körper pulsiert der Sitz mit Massagefunktion. Draußen zieht die Schwäbische Alb vorbei, die Sonne spiegelt sich im Fensterglas. „Schön hier!“ tönt es leise vom Vordersitz.

Bei Peter angekommen, beschäftigt sie sich erst mal mit den Chihuahuas. Einer schleicht um ihre Knöchel, einer sitzt auf ihrem Schoß. Charlotte Kretschmann massiert ihm den Hals und hat dabei die Beine ganz nah aneinandergepresst, sodass die kleinen Hundepfoten nicht abrutschen, während sie sich weiter in ihr Hosenbein graben. Sie erzählt von den anderen Menschen im Heim. „Die hören nichts mehr, die rühren sich nicht. Bekommen einfach was in den Mund gestopft.“ Sie sei froh, jeden Sonntag bei ihrem Enkel zu sein. „Der Peter hat immer gesagt, Oma, du wirst 120. Aber bloß im Bett liegen und alt werden und zum Schluss aussehen wie eine Mumie, nein, das möchte ich nicht.“ Sie nimmt einen Schluck Kaffee, streicht sich das Haar. „Ingrid, wie ist meine Frisur?“, fragt sie die Frau von Peter, die gerade ein Stück Sahnetorte auf den Tisch stellt. Dann wandert ihr Blick nach draußen und verweilt im Garten. Dort wackelt ein Vogelhäuschen im Wind. „Schön“, flötet sie sanft. Ein Wort, das sie häufig benutzt. Dann klingt sie besonders glücklich.

Urlaub in Italien und an der Nordsee

Jürgen hat ihr alte Urlaubsfotos in die Hand gedrückt. Er schaltet das Licht an, damit seine Oma die Bilder besser erkennen kann: Fotos aus dem Urlaub in Abano. Sie erinnert sich daran, wie sie damals mit Werner nach Italien gefahren ist, durch Garmisch, vorbei an den Seen in Bayern. Gewappnet mit einem ADAC-Reiseführer hätten sie verschiedene Routen ausprobiert. In Abano, dort waren sie oft. Oder an der Nordsee bei ihrer Schwester Edeltraut, die in Bremen wohnte. Sie seien im Watt gelaufen und anschließend hätten sie in einem Strandkorb gesessen und Zwetschgenkuchen gefuttert. „Es war schön! Auch wenn wir zwischendurch Krieg hatten, wir haben viel Schönes erlebt“, sagt sie.

Vom Thema Urlaub kommt sie auf das Thema Skifahren. Sie erzählt, dass ihr Schwiegersohn Max ein begnadeter Skifahrer gewesen sei. Doch auch das Motorradfahren hätte er geliebt – bis es ihm schließlich zum Verhängnis wurde. Charlotte Kretschmann wird jetzt leiser, auch ihr Blick verändert sich. Sie wirkt nicht mehr so wach wie zuvor, sondern mehr in sich gekehrt. Ihr Schwiegersohn Max sei bei einem Motorradunfall ums Leben gekommen. Einen Tag vorher hätte es geregnet, er sei über einen Schotterweg gefahren und in der Kurve habe er die Kontrolle verloren, lag im Koma und sei schließlich gestorben. „Wir haben sehr viel durchgemacht in der Familie“, sagt sie und erzählt, wie schwierig die Zeit für ihre Tochter nach dem Unfall gewesen sei.

Schlaflose Nächte im Altenheim

Der Gedanke an ihre Tochter als Mutter, erinnert Charlotte Kretschmann auch an die eigene Mutter. Die Erinnerungen an ihre Kindheit, die kämen ihr nicht nur in diesem Moment, sondern oft auch in ihren Träumen, sagt sie. Dann würde sie nachts aufwachen und müsse sich erst mal sammeln, um einordnen zu können, wo sie gerade ist: „Ich träume, aber das ist schrecklich. Wenn ich aufwache, dann denke ich: Wo bin ich denn hier? Und dann merke ich, meine Mama lebt ja gar nicht mehr, ich bin ja im Altenheim.“

Sie gräbt die Kuchengabel tiefer in die Sahnetorte. „Ich habe so schöne Träume. Ich sage: Mama, wir wollten doch Stoff kaufen gehen, du wolltest mir doch ein Kleidchen nähen.“ Die Gabel bewegt sich Richtung Mund. „Der Traum ist schön, aber wenn ich aufwache, dann kann ich nicht mehr schlafen und dann weine ich die ganze Nacht.“ Sie schiebt sich ein Stückchen Kuchen in den Mund, Tränen rollen über ihre Wangen. Sie atmet jetzt ganz leise.

Auch wenn Charlotte Kretschmanns Kindheit bei meinem Besuch schon mehr als 100 Jahre her war, hatte ihr Gesicht noch immer etwas Kindliches. Ich erinnere mich an ihren weichen Blick und an ihre warmen Hände, die sie mir entgegen streckte. Ich erinnere mich an meine Notizen und all die Fragen, die ich ihr nicht gestellt habe. Ich erinnere mich, wie ich auf dem Rückweg im Auto saß und mich fragte, worauf es in einem langen Leben ankommt. Nicht auf die großen Ereignisse der Weltgeschichte, sondern auf all die kleinen Momente, die man manchmal fast übersieht.

In dieser Woche, am Dienstag, ist Charlotte Kretschmann in ihrem Seniorenheim in Kirchheim unter Teck friedlich eingeschlafen.