Bunt, laut, fröhlich – und kämpferisch: Stuttgart erlebt am Samstag die größte CSD-Demo in seiner Geschichte. 150 Formationen, so viele wie noch nie, ziehen durch die City, um ein Zeichen gegen Hass und Spaltung in der Gesellschaft zu setzen.
An den Spekulationen über die Besucherzahlen des Stuttgarter CSD will sich die Polizei diesmal nicht beteiligen. Wer kann schon so viele Menschen zählen, die quer durch die City stehen, tanzen, feiern? „Sechsstellig“ sei’s aber schon gewesen, sagt eine Polizeisprecherin am Sonntag. Es sei viel los gewesen, fährt sie fort, aber es habe „nichts Herausragendes“ gegeben. Alles blieb friedlich. Auch die mobile Polizeiwache, die den Zug erstmals begleitet hat, um Anzeigen gegen Queerfeindlichkeit aufzunehmen, habe bis zum Abend keine besonderen Vorkommnisse gemeldet.
Veranstalter schätzen, dass 300.000 beim CSD dabei waren
CSD-Sprecher Detlef Raasch sagt, mit den 150 Formationen hätten 20.000 Demonstrierende angemeldet. Die gesamte Besucherzahl schätzt er auf 300.000 - wegen des früheren Beginns mit Rücksicht auf die Jazz Open also weniger als vor einem Jahr. Aber man habe einen deutlich längeren Demonstrationszug gehabt als vor einem Jahr. Und die Stimmung sei „unglaublich“.
Parade? Das Wort, mit dem der CSD früher bezeichnet wurde, mögen die Veranstalter nicht. Auf den Trucks spielen DJs laute Partymusik, man sieht fantasievolle Kostüme, Lebenslust und Leichtigkeit sind zu spüren, die Hochstimmung steckt an – aber alles geschieht vor einem ernsten Hintergrund. Und deshalb treten die 150 Formationen laut Detlef Raasch von der Interessengemeinschaft CSD Stuttgart nicht zu einer Parade an, sondern zu einer Demonstration unter dem Motto „Vielfalt leben – jetzt erst recht“. Dem Spaß, den Zehntausende am Straßenrand haben, tut das politische Anliegen freilich keinen Abbruch.
Neuer Rekord bei den Anmeldungen
Die Gesellschaft dürfe sich nicht durch rechtsextreme Einflüsse zurückentwickeln, lautet die zentrale Forderung des kilometerlangen Demonstrationszuges. Die Zunahme von Hasskriminalität und Gewalt gegen queere Menschen sei ein höchst alarmierendes Zeichen, so die Veranstalter, wogegen sich Zehntausende in Stuttgart eindrucksvoll und bunt entgegenstellten.
Bei den Anmeldungen gab es mit 150 Gruppen (ob zu Fuß oder auf dem Truck) einen neuen Rekord. Die Vielfalt der Stadtgesellschaft – große Firmen wie Breuninger, Bosch, Mercedes-Benz oder Porsche sind dabei ebenso wie der VfB, fast alle Parteien, das Kinder- und Jugendhospiz, die Johanniter Unfallhilfe, der Hotel- und Gaststättenverband oder die Stadtverwaltung Stuttgart – zeigt Flagge. Bei all dem politischen Streit im Alltag gibt es in dieser Stadt also einen Konsens, den alle (mit Ausnahme der AfD) teilen. Es ist der Konsens, dass Menschen, so unterschiedlich sie auch sind, zusammenhalten, dass sie lieben dürfen, wen sie lieben, dass Vielfalt ein Reichtum ist.
Erstmals ist OB Nopper dabei
Ein bekanntes TV-Gesicht („Drama, Baby, Drama!“) feiert auf dem Truck der Outletcity Metzingen mit. Bruce Darnell, Choreograf, Model, über Jahre Jurymitglied bei der RTL-Show „Supertalent“, ist schwul und schwarzhäutig. „In vielen Bereichen des Lebens“, sagt er uns, habe er Vorurteile spüren müssen. Vor dem Start der Pride erklärt der 67-Jährige: „Vielfalt ist eine Stärke, und jeder sollte die Freiheit haben, so zu leben und zu lieben, wie er es möchte.“
Zum ersten Mal ist auch Oberbürgermeister Frank Nopper (CDU) beim CSD dabei. Er fährt auf dem VfB-Truck mit und trifft dort Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne), VfB-Chef Alex Wehrle und VfB-Präsident Claus Vogt sowie den schwulen Fanclub Stuttgarter Junxx trifft. Alle tragen das neue VfB-Trikot in den Regenbogenfarben. Währenddessen klettert Gudrun Nopper, die Frau des Oberbürgermeisters, auf den Truck des Hotel- und Gaststättenverbands. Djane Alegra Cole legt auf dem Wagen der FDP auf.
Erstmals ist das Pressehaus mit dabei
Erstmals fahren auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Stuttgarter Zeitung, der Stuttgarter Nachrichten und von Hitradio Antenne 1 auf einem eigenen Truck. Das Motto des Pressehauses lautet: „Vielfalt vereint. Gemeinsam für Toleranz, Respekt und Akzeptanz“. Organisator Chris Fleischhauer, der stellvertretende Programmchef von Antenne 1, freut sich über die „tolle Stimmung“ auf dem Wagen. Man habe auch das CSD-Lied „Jetzt erst recht!“ von Frl. Wommy Wonder gespielt.
Landtagspräsidentin bedankt sich, „dass ihr laut seid“
Auf den Plakaten stehen Sprüche wie „God is queer“, „Liebe ist ewig wie der Bau von Stuttgart 21“ und „Kein Sex mit Nazis“. Überall in der Stadt wird getanzt, laute Musik läuft, man sieht fröhliche Gesichter. Kämpferisch geht es bei der Kundgebung auf der Planie zu. Landtagspräsidentin Muhterem Aras (Grüne) bedankt sich, „dass ihr laut seid“. Von Stuttgart gehe „ein starkes Zeichen“ aus, lobt sie und ruft: „Solange Pride-Plakate verbrannt werden, müssen wir laut sein!“
Erstmals hat ein jüdisch-türkisch-islamisches Trio die Schirmpartnerschaft beim CSD übernommen: Yelizaveta Strelkowa von LGBTJews, Atahan Demirel von der Queer-Muslimischen Allianz Deutschland und Olcay Miyanyedi von der Türkischen Gemeinde Baden-Württemberg betonen bei der Kundgebung, wie wichtig der Zusammenhalt in der Community sei. „Wir müssen alles dafür tun, dass man uns nicht auseinandertreibt“, sagen sie, „wir müssen gemeinsam die erkämpften Rechte verteidigen und eine Spaltung verhindern.“
„Demokratie ist ein zartes Pflänzchen, das wir schützen müssen“
CSD-Sprecher Detlef Raasch sieht seine Aufgabe darin, „Verbindungen zu schaffen“, sagt er auf der Kundgebung. Deshalb sei es ihm auch wichtig, dass ein Vertreter der Polizei sprechen könne. Thomas Ulmer, der die queeren Polizistinnen und Polizisten vertritt, begrüßt, dass am Samstag eine mobile Polizeiwache unterwegs ist, um bei Fällen von Hass oder Gewalt gegen queere Menschen sofort reagieren zu können. Das habe es bisher bei keinem CSD in Deutschland gegeben. Clublegende Laura Halding-Hoppenheit ruft der Masse zu: „Ich bin eure Mutter!“ Man müsse sehr wachsam sein, dass erkämpfte Rechte und die Demokratie erhalten blieben. „Die Demokratie ist ein zartes Pflänzchen, das wir schützen müssen“, sagt sie.