Doch die Wiedervereinigung der Familie im Frühjahr 1946 ist nicht von langer Dauer. Am 29. März wird Shmuel Dancyger bei einer Razzia im DP-Camp von einem deutschen Polizisten erschossen. Erst seit 2018 erinnert in der Reinsburgstraße eine kleine Stele an ihn. „Der Todesschütze wurde nie ermittelt“, ist dort zu lesen. Treffender wäre: „Der Todesschütze wurde nie ernsthaft gesucht.“
Grund für die Razzia Ende März 1946 ist die Bekämpfung des Schwarzmarkts, auf dem damals Lebensmittel und Gegenstände des alltäglichen Bedarfs getauscht werden. Eine Überlebensfrage in der von wirtschaftlicher Not geprägten Nachkriegszeit.
Die Kinder finden ihre Mutter wieder
Das im August 1945 eingerichtete DP-Camp im Stuttgarter Westen ist der Bevölkerung ein Dorn im Auge. Die US-Militärregierung hat dafür in der Reinsburgstraße Wohnblöcke beschlagnahmt. Betreut werden die jüdischen Bewohner von der UNRRA (United Relief and Rehabilitation Administration), einer neu gegründeten Organisation der Vereinten Nationen. Sie ist zuständig für ehemalige KZ-Häftlinge, Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene, die sich außerhalb ihres Heimatstaats aufhalten und ohne Hilfe nicht zurückkehren oder auswandern könnten. Gerade für Juden aus Polen ist keine Rückkehr möglich: Kurz nach Kriegsende kommt es zu antisemitischen Übergriffen. Sie münden im Pogrom von Kielce im Juli 1946, dem 40 Juden zum Opfer fallen.
Auch in Radom bewegen antisemitische Übergriffe zurückgekehrte Juden schon 1945 zur Flucht. Darunter die Kinder von Shmuel Dancyger, die nach der Befreiung von Auschwitz gemeinsam mit ihrer Großmutter zurückgekehrt sind. Als sie auf einer Liste des Roten Kreuzes den Namen ihrer Mutter Regina entdecken, die in Stuttgart Zuflucht gefunden hat, machen sie sich auf den Weg zu ihr. Regina Dancyger wusste bis dahin nicht, ob ihre Kinder überlebt haben.
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Viele jüdische Überlebende wollen in die USA und nach Palästina emigrieren. Sie sind in der US-Zone in separierten DP-Camps untergebracht – in tatsächlichen Lagern, ehemaligen KZ, Kasernen und Schulen oder, wie in Stuttgart, in beschlagnahmten Privatwohnungen. In der Reinsburgstraße, wo bis 1949 durchschnittlich etwa 1300 polnische Juden leben, baut sich ein selbst verwaltetes Alltagsleben mit Schulen, Ausbildungsstätten und sogar einer eigenen DP-Polizei auf. Diese wird von der US-Besatzungsmacht mit fünf Karabinern ausgestattet. Als interne Ordnungsinstanz hat sie eine wesentliche Funktion für die Selbstverwaltung.
Die Stuttgarter Polizei etabliert in ihren wöchentlichen Berichten an die US-Militärregierung und den Geheimdienst der US-Armee ein Bedrohungsszenario. Im November 1945 heißt es: „In der Bevölkerung wird über die zunehmende Überflutung der Stadt durch minderwertige ausländische Elemente geklagt, die nicht nur offensichtlich die Hauptakteure des Schwarzen Marktes sind, sondern auch sonst auf den wichtigsten Plätzen und Hauptverkehrsstraßen der Stadt sich immer mehr breitmachen.“ Große Gefahr ginge davon aus, dass „seitens der UNRRA Wohnblöcke mit ausländischen Elementen zweifelhafter Herkunft, darunter auch wohl Kriminellen belegt werden“.
Tod durch Kopfschuss
Als der Stuttgarter Polizeichef Karl Weber im März 1946 bei der Militärregierung um die Genehmigung einer „allgemeinen Razzia großen Stils“ bittet, begründet er dies mit einem Diebstahl im Ernährungsamt, bei dem Lebensmittelkarten entwendet worden sind und wofür er die DPs verantwortlich macht. Es sei, so der Polizeichef, einer breiten Öffentlichkeit bekannt, „dass die Fäden des Schwarzen Marktes in diesem Lager der polnischen Juden zusammenlaufen“.
Gegen 6.15 Uhr des 29. März 1946 marschieren 200 deutsche Polizisten, darunter 81 Kriminalpolizisten, im DP-Camp auf. Begleitet werden sie von nur acht amerikanischen Militärpolizisten (MP). Per Lautsprecher werden die DPs dazu aufgefordert, sich – bis auf Frauen mit Säuglingen – auf der Straße einzufinden. Nachdem Polizisten den 19-jährigen Kurant Benesch in Handschellen aus seinem Haus geführt haben, kommt es zu ersten Auseinandersetzungen.
Als sich immer mehr DPs auf der Straße einfinden und versuchen, die Polizei aus dem Camp zu drängen, greifen die Polizisten zu ihren Waffen. Shmuel Dancyger trifft eine Kugel im Kopf, die aus nächster Nähe abgefeuert wird. Er ist sofort tot. Drei weitere DPs erleiden Schussverletzungen. Mit dem Eintreffen von US-Ordnungskräften wird die Razzia abgebrochen und die deutsche Polizei angewiesen, das DP-Camp zu verlassen.
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Die Stuttgarter Polizei erklärt anschließend, sie habe bei der Razzia aus Notwehr gehandelt, aber lediglich Warnschüsse in die Luft abgegeben: „Dabei wurde ein Pole, der schon vorher wiederholt mit einer Kanne auf Polizisten eingeschlagen hatte, getötet.“
Die DPs hatten gute Gründe, davon auszugehen, dass die Razzia nicht rechtmäßig war. Denn der UNRRA-Direktor des Camps, Harry Lerner, hatte schon am 31. Januar 1946 in einer Besprechung mit der Military Police in Stuttgart eine Sonderregelung für das jüdische Camp erwirkt. Danach durften Razzien ausschließlich durch die US-Militärpolizei, in Kooperation mit der UNRRA und den jüdischen DP-Polizisten, durchgeführt werden. Der Grund: Man ging bei einer Beteiligung der deutschen Polizei von einem hohem Eskalationspotenzial aus. Ein Aushang im Camp informierte die Bewohner über die Abmachung. Doch bei der Genehmigung der Razzia spielte diese keine Rolle.
Die US-Militärregierung leitet noch am Tag danach Ermittlungen zum tödlichem Ausgang ein. Dabei dominiert die Perspektive der deutschen Polizei. Die Razzia sei begründet und rechtmäßig durchgeführt worden, so die zentrale Schlussfolgerung der Ermittler. Andererseits haben die Razzia und ihre Aufarbeitung aber Folgen für die deutsche Polizei in der gesamten amerikanischen Besatzungszone: Der Zutritt zu jüdischen DP-Camps ist ihr fortan verboten. Man will weitere Zusammenstöße verhindern.
Der Stuttgarter Polizeiobermeister
In dem Abschlussbericht der Amerikaner heißt es: „Dancyger wurde während des Gefechts zwischen dem Mob und der deutschen Polizei von einer unbekannten Person durch Schüsse getötet.“ In der Extraausgabe der Stuttgarter DP-Zeitung „Ojf der Fraj (Wieder frei)“, die am 8. April 1946 anlässlich der Razzia erscheint, steht hingegen: „Ein Wachtmeister, Hoch soll er heißen, hat Dancyger erschossen.“ Derselbe Name findet sich im Protokoll des „Zentralkomitees der befreiten Juden in der US-Zone“. Hier heißt es: „Oberwachtmeister Hoch – der Mörder von Dancyger . . .“ Allerdings: Der Name Hoch führt nicht weit. Er taucht weder in den Ermittlungsakten noch anderen Quellen auf, und es gab zu diesem Zeitpunkt keinen in Stuttgart tätigen Polizisten dieses Namens.
Die Ermittlungsakten und weitere Quellen deuten darauf hin, dass es sich um ein Missverständnis und in Wirklichkeit um Polizeiobermeister Koch handelt. Der am 7. November 1900 in Eningen bei Reutlingen geborene Arthur O. Koch hat als Teil der uniformierten Polizei an der Razzia teilgenommen. Sein Name taucht mehrfach in den Ermittlungsakten auf. Er war der Leiter der Polizeireserve, die sich am Eingang des DP-Camps auf der Rotenwaldstraße bereithielt. Dort eskalierte die Razzia.
Aus der Vernehmung mit dem Leiter der Razzia geht außerdem hervor, dass Obermeister Koch zu Beginn mit einigen Schutzpolizisten das Büro der jüdischen DP-Polizei aufsuchte. Ziel war es, deren Waffen sicherzustellen. Auch auf der Liste der 28 bei der Razzia verletzten Polizisten taucht Koch auf: „Arthur Koch, Pol.-Obermeister, 6. Pol.-Revier, erhielt mehrere Schläge in das Gesicht, die Kratzspuren zur Folge hatten. Außerdem wurde ihm seine Uniform zerrissen.“
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Weitere Indizien sprechen für die Annahme, dass es sich bei „Oberwachtmeister Hoch“ um Polizeiobermeister Arthur Koch handelt. So passen die Angaben der Camp-Bewohner über den Schützen: „Er war ein kleiner Mann, uniformiert, etwa 45 Jahre alt“, beschreibt DP-Polizist Kedman Zlotnik den Täter. Auch Chaim Tabaksblatt sagt aus, der Täter sei „sehr klein“ gewesen. Und tatsächlich: Koch ist nicht nur 45 Jahre alt, sondern auch nur 1,66 Meter groß.
Chaim Tabaksblatt gibt an, dass der Schütze zu jenen Polizisten gehörte, die zum Zeitpunkt der Eskalation – bevor sie zu den Schusswaffen griffen – mit Gerten auf die protestierenden DPs einschlugen. Da Kochs Name auf der Liste der verletzten Polizisten steht, gehörte er offensichtlich zu denjenigen, die in die handgreifliche Konfrontation mit den DPs involviert waren. Zlotnik und Tabaksblatt geben als Zeugen an, sie könnten den Schützen identifizieren. Doch das übliche polizeiliche Mittel der Gegenüberstellung wenden die US-Ermittler nicht an.
Ein weiterer eindeutiger Anhaltspunkt wird nicht verfolgt: Nach der abgebrochenen Razzia sammelte die MP alle Waffen der beteiligten deutschen Polizisten ein, um sie einer ballistischen Untersuchung zu unterziehen. Die Auswertung dieser Untersuchung ist in den mehr als 300 Seiten schweren Ermittlungsakten allerdings nicht zu finden. Dabei hätte sie sehr wahrscheinlich zu einer eindeutigen Identifizierung der Waffe geführt, aus der geschossen wurde. Und damit zur Identität des Schützen.
Karriereschub für Koch
Für Arthur Koch folgt auf die Razzia ein Karriereschub: Schon einen Monat danach, am 30. April 1946, wird er zum Polizeiinspektor befördert. Empfohlen hat dies der auch an der Razzia beteiligte Kommandeur der Schutzpolizei, Paul Frank. Knapp ein Jahr später, im März 1947, wird Koch Polizeioberinspektor, im Februar 1948 Schutzpolizeirat. Immer in Stuttgart. 1962 geht er in den Ruhestand. Neun Jahre später stirbt er.
Da Koch während des Nationalsozialismus durchweg Polizeidienst geleistet hat, läuft 1947 in Stuttgart ein Spruchkammerverfahren gegen ihn. Nach diesen Akten besuchte er 1925 erfolgreich die Polizeifachschule Stuttgart, absolvierte 1937 einen Polizeiobermeisterlehrgang. Im März 1938 war er mit der Stuttgarter Schutzpolizeiabteilung in Innsbruck eingesetzt worden, danach als Revierführer in Stuttgart.
Von 1942 bis Dezember 1943 war er Teil des Kommandos der Schutzpolizei im ukrainischen Mariupol. Dort arbeitete er eigenen Angaben zufolge im Ausbildungsdienst der deutschen Polizei und der ukrainischen Schutzmannschaft. Bei der Rückkehr nach Stuttgart im Januar 1944 wurde er erneut Revierführer, nach Kriegsende Polizeiobermeister. Mitglied der NSDAP war er nicht.
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Im Zentrum des Spruchkammerverfahrens wird ermittelt, ob das Kommando der Schutzpolizei, dem Koch in Mariupol angehört hat, an Deportationen der ukrainischen Zivilbevölkerung beteiligt gewesen ist. Ohne Ergebnis. Teil des Verfahrens sind Dokumente, die auf eine SS-Mitgliedschaft Kochs hinwiesen. Bewerbungsunterlagen gingen nach Berlin. Im Juni 1942 ließ die SS jedoch mitteilen, Koch sei laut Musterungsergebnis „ungeeignet“. Im Juli 1948 wird das Spruchkammerverfahren eingestellt und Arthur Koch als „nicht belastet“ eingestuft.
Spiegeln sich im Fall Dancyger auch ideologische Kontinuitäten der Polizeiarbeit wider? Im Bericht des Stuttgarter Polizeipräsidiums an Oberbürgermeister Arnulf Klett vom Tag nach der Razzia heißt es: „Die deutsche Bevölkerung der Stadt wünscht und hofft, dass zur Erhaltung der öffentlichen Sicherheit und Einkehr von Ruhe und Frieden die derzeitigen Bewohner der oberen Reinsburgstraße sofort abtransportiert werden.“
Die Camp-Bewohner benennen klar die Fortdauer des Antisemitismus. So schreibt Szama Waks in der DP-Zeitung vom 8. April 1946 anlässlich der Razzia: „Und wenn ich mir in dem Moment erlauben soll, den gefallenen Freund zu preisen, will ich sagen: Shmuel Dancyger, dein Tod soll ein Aufruf sein an die ganze Welt, ein S.O.S-Signal, dass die Mentalität der vormaligen deutschen Mordhetzer noch nicht verschwunden ist.“
Autorinnen
Tina Fuchs ist SWR-Fernseh- und Hörfunkjournalistin, sie hat 2020 damit begonnen für den SWR den Fall Danziger zu recherchieren. Io Josefine Geib hat an der Goethe-Universität Geschichte mit Schwerpunkt Holocaustforschung studiert. In ihrer Masterarbeit untersucht sie die Razzia der deutschen Polizei im jüdischen DP-Camp in der Stuttgarter Reinsburgstraße.
Buch
Der hier veröffentlichte Text ist eine stark gekürzte Fassung aus dem von Hermann G. Abmayr herausgegeben Sammelband „Stuttgarter NS-Täter“(2. Auflage, 392 Seiten, 24,80 Euro).