Eine Exkursion mit Putzlappen und Poliermittel: Jugendliche aus Waiblingen und Besançon forschen zur (Nach-) Kriegszeit und Erinnerungskultur – und bringen Stolpersteine für NS-Opfer auf Glanz.
Der Stein des Denk-Anstoßes liegt in der Badergasse in Bad Cannstatt. Genau genommen sind es vier Steine: Stolpersteine, die vor dem Haus Nummer 6 an die Ermordung der Geschwister Otto, Sonja, Thomas und Albert Kurz erinnern. Albert war erst sechs Jahre alt, als er im sogenannten Zigeunerlager des KZ Auschwitz-Birkenau starb. Otto, der Älteste, war zehn.
Die 20 Jugendlichen, die an diesem sonnigen Nachmittag in einem Kreis um die Stolpersteine stehen, sind nicht viel älter als Otto bei seinem Tod im August 1944. Im Mai 1945 endete der Zweite Weltkrieg, der mehr als 60 Millionen Menschen das Leben kostete. Zu dieser Zeit wäre eine Szenerie wie die in der Badergasse undenkbar gewesen: Zehn junge Franzosen und zehn junge Deutsche, die freundschaftlich zusammenstehen und im Rahmen einer Projektwoche an einem Geschichtsprojekt arbeiten.
Alle zwei Jahre nehmen 20 Schülerinnen und Schüler des Waiblinger Staufer-Gymnasiums und des Lycée Victor Hugo in Besançon an einer deutsch-französischen Projektwoche teil und untersuchen die gemeinsame Geschichte. Dieses Mal beschäftigen sie sich mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs und der Zeit, die darauf folgte.
Exkursion zu Stolpersteinen in Bad Cannstatt
Der Rundgang durch Bad Cannstatt mit Rainer Redies von der lokalen Stolperstein-Initiative ist eine von mehreren Exkursionen, die beispielsweise ins Haus der Geschichte in Stuttgart – Thema „Nachbar Frankreich“ – und ins Waiblinger Haus der Stadtgeschichte führten, wo es um den Widerstand der Waiblinger Frauen im April 1945 ging. Diese hatten lautstark gegen die Verteidigung der Stadt gegen die heranrückenden alliierten Truppen protestiert.
In der Gegend um Besançon, das in der Franche-Comté liegt, seien Deutsche lange Zeit nicht sehr beliebt gewesen, erzählt Christian Jehle, der als Lehrer am Lycée Victor Hugo arbeitet und das Schulprojekt mit der Kollegin Katrin Engel vom Staufer-Gymnasium betreut. „Die Unterdrückung durch die Deutschen war in dieser Region stark“, sagt Jehle. Von 1943 an wurden junge Männer zur Zwangsarbeit in Deutschland verpflichtet. „Das hat viele in den Widerstand getrieben.“
Viele junge Franzosen waren im Widerstand aktiv
Auch in Valentines Familie: „Mein Vater hat mir erzählt, dass sein Onkel mit 17 Jahren dem Widerstand beigetreten ist und dort sein Leben riskiert hat. Viele Schüler haben in der Zeit diese schwere Entscheidung getroffen.“ Candice’s Urgroßvater musste 1943 als Zwangsarbeiter nach Deutschland: „Ein deutscher Arzt hat ihm geholfen, zu fliehen.“
Von den Menschen, die an diesem Nachmittag im Mittelpunkt stehen, hatten die wenigsten eine Chance zur Flucht. Rainer Redies und seine Frau Anke haben in jahrelanger Arbeit die 128 Biografien der Cannstatter Opfer recherchiert. Über einige Schicksale berichten die deutschen Jugendlichen nun beim Rundgang ihren Tandempartnern. An zwei Stationen spielen Josien und Ioannis ein Stück auf ihren Gitarren.
Säuberungsaktion mit Schwamm und Poliermittel
Danach greift Katrin Engel zu einer Papiertüte, zieht erst ein Reinigungsmittel, dann mehrere Schwämme und Lappen heraus und reicht sie den Jugendlichen, die die Stolpersteine erst putzen und dann sorgfältig polieren bis sie in der Sonne glänzen. In der Daimlerstraße knien Sophie und Noémie, Anna, Pénélope und Laurine am Boden und säubern die Gedenksteine von Else Kauffmann und ihrem Mann Eugen. Dann legen sie mitgebrachte Osterglocken ab. Der Stuttgarter Eugen Kauffmann studierte Medizin in Freiburg und französische Literatur an der Sorbonne. Später war er Augenarzt – bis er als Jude nicht mehr praktizieren durfte. Er starb in Theresienstadt, seine Frau Else in Auschwitz.
Die Putzaktion bringt Aufmerksamkeit
Auschwitz, Theresienstadt, Treblinka, Izbica, Riga – auch zu den Vernichtungslagern haben die Schüler Informationen gesammelt und tragen sie nun vor. Die Aktion veranlasst manch einen, stehen zu bleiben und zuzuhören. Eine Mutter berichtet der kleinen Tochter im Vorbeigehen, was es mit den Stolpersteinen auf sich hat. Ein Passant, der aus Kanada stammt,lässt sich von den Jugendlichen aufklären.
Die Exkursion endet am Denkmal von Leopold Marx, einem deutsch-jüdischen Schriftsteller, Dichter und Leiter einer Weberei, der im Ersten Weltkrieg in französische Gefangenschaft geriet. Ihm und seiner Familie gelang 1939 die Flucht nach Palästina. Katrin Engel zitiert eines seiner Gedichte, die Schüler legen Blumen nieder und zünden eine Kerze an. „Wenn man die Stolpersteine nur sieht, kennt man die Geschichte dahinter nicht – es war interessant, sie zu hören“, sagt Josien. Und Emma findet: „So kann man das Ausmaß der Deportationen besser begreifen.“
Im Mai reisen die deutschen Jugendlichen nach Besançon, wo sie auch das Museum des Widerstands und der Deportation besuchen und die französische Sicht kennen lernen werden.