Deutsches Literaturarchiv Rilke, Fanfiction und weiße Elefanten
Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach blickt in das Jahr und hat einiges zu bieten: anspruchsvolle Unterhaltung für die ganze Familie im besten Sinn.
Das Deutsche Literaturarchiv in Marbach blickt in das Jahr und hat einiges zu bieten: anspruchsvolle Unterhaltung für die ganze Familie im besten Sinn.
Gedenkjahre schieben immer wieder neue Namen ins Zentrum, um deren überragende Bedeutung für den Augenblick zu postulieren. Für eine Institution wie das deutsche Literaturarchiv in Marbach ist das kein Problem. An Säulenheiligen hat man hier keinen Mangel, auf Kafka folgt Rilke. Die Direktorin des Deutschen Literaturarchivs, Sandra Richter, eröffnet die Jahrespressekonferenz naheliegenderweise mit einem Zitat aus dessen achter Duineser Elegie: „Und wir: Zuschauer, immer, überall, /dem allen zugewandt und nie hinaus! / Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt. / Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.“
Eigentlich ist darin schon alles enthalten. Es geht um Rainer Maria Rilke, spätestens seit der Übernahme des Gernsbacher Archivs 2022 besitzt Marbach eine der bedeutendsten Sammlungen des Autors; es geht um die Bedeutung von Literatur in einer vom Gefühl des Zerfalls geprägten Weltlage wie der gegenwärtigen; es geht um das Ordnen – und auf eine Weise spielt auch das „uns überfüllts“ eine Rolle.
Denn bekanntlich platzt das Haus aus allen Nähten. Und hier gibt es durchaus Erfreuliches zu vermelden: Der Landtag Baden-Württembergs hat im Doppelhaushalt die Finanzierung des Neubaus und der Sanierungsprojekte beschlossen, in Höhe von 73 Millionen Euro – „in Zeiten knapper Kassen ist das ein unglaublicher Schritt“, sagt Sandra Richter. Sobald die Unterlagen durch die beteiligten Ministerien und Behörden geprüft seien, voraussichtlich bis zum Ende Jahres, werde ein Architekturwettbewerb ausgeschrieben, um die weiteren Schritte einzuleiten. Im Herbst letzten Jahres wurde bereits das Interim in Fellbach bezogen, bei laufendem Betrieb, und das soll auch so bleiben: „Wir wollen die belesenste Baustelle Deutschlands werden.“
Platznot ist die Kehrseite des erfreulichen steten Zugangs neuer Kostbarkeiten. Und die jährliche Pressekonferenz hat immer etwas von der Öffnung einer Schatzkammer. Unter den jüngsten Erwerbungen ragt das Redaktionsarchiv von „Westermanns Monatsheften“ heraus. In der Kulturzeitschrift veröffentlichten große realistische Erzähler des 19. Jahrhunderts wie Wilhelm Raabe, Theodor Fontane, Theodor Storm oder Paul Heyse. Roman- und Erzählungsmanuskripte finden sich in dem Bestand, nebst einer umfangreichen Korrespondenz mit den Hauptakteuren des literarischen Lebens der Zeit.
Möglich gemacht hat den Kauf neben dem Bund, Mäzenen die Kulturstiftung der Länder. Deren Generalsekretär, Markus Hilgert, unterstreicht, warum seine Stiftung zu den unermüdlichen Förderern zählt: weil kulturelles Erbe hier nicht nur verwaltet und erhalten, sondern der Öffentlichkeit zugänglich gemacht werde, „dass möglichst viele Menschen dann auch in den Genuss des Inhalts und der Bedeutung dieser Schätze kommen“.
Anspruchsvolle Unterhaltung für die ganze Familie – diese Ausrichtung von „Westermanns Monatsheften“ könnte man mit einem gewissen guten Willen in manchen der Unternehmungen der Marbacher Institute tatsächlich heraushören.
Neben dem Nachlass von Rio Reiser findet sich nun mit dem Vorlass des Liedermachers und Autors Hans-Eckardt Wenzel ein weiterer, wenngleich weniger bekannter Songwriter-Bestand im Archiv. Wenzel, 1955 in der DDR geboren, unterzog den Arbeiter- und Bauernstaat in seinen Protestsongs einer clownesken Behandlung, erläutert der Leiter der Handschriften Abteilung, Ulrich von Bülow: „Altes aus der DaDaR“.
Auch das wissenschaftliche Programm öffnet sich Fragen der Popularisierung: Eine Tagung im Juni untersucht Podcasts über Literatur. Und welche Rolle spielt Fanfiction bei Kanonisierungsprozessen? Denn offensichtlich kommt dieser Aspekt nicht nur im Marveluniversum zum Tragen, sondern auch bei den Leitgestirnen im unterirdischen Himmel des Archivs, um ein Martin-Walser-Wort zu zitieren.
Die Bibliothek kann neben dem Neuzugang von Martin Heideggers Arbeitsbibliothek mit der Erwerbung einer Sammlung von rund 1600 Robinsonaden den bibliophilen Abenteuergeist wecken. Marbach ist eine Insel für sich, der Lesestoff geht nicht aus.
Und damit zu der Schauseite: Im Mai kommt der Genius loci in der neu geordneten Dauerausstellung unter dem lapidaren Titel „Schiller!“ zu seinem angestammten Recht. In neuen Kapiteln in neuen Räumen soll der Aufstieg von den schwäbischen Anfängen zu einer Kultfigur erzählt werden, die bis heute nichts an Einfluss verloren hat, zumal wenn sie unter so gegenwärtigen Gesichtspunkten diskutiert wird, wie sie die Leiterin der Museen, Vera Hildenbrand, anreißt: welche Anknüpfungspunkte bietet Schillers Werk beispielsweise für die politische Bildung in einer Demokratie.
Aber natürlich steht dieses wie das nächste Jahr in Marbach ganz im Zeichen eines andern: Rilke! Dass sowohl 2025 wie 2026 Rilke-Jahre sind, 150. Geburts-, 100. Todesjahr, hat zur Folge, dass man sich bei der der vielleicht am heißesten erwarteten Schatzöffnung noch bis zum Dezember gedulden muss. „Und dann und wann ein weißer Elefant“ – unter diesem Titel wird erstmals das Gernsbach-Archiv einem breiten Publikum zugänglich gemacht werden: Rilkes Welten, als Liebhaber, Reisender, als vielfach Fotografierter und natürlich vor allem als Schreibender, der in vielfältigen Schaffensprozessen skrupulös um das fertige Werk gerungen hat. Wer will, kann sich schon einmal mit Sandra Richters in diesen Tagen erschienenen großen Biografie vorbereiten: „Rainer Maria Rilke oder das offene Leben“.
Aber weil man hier nicht in kurzfristigen Konjunkturen denkt, bleibt das Echo von Rilkes Prager Gegenüber auch in diesem Jahr vernehmbar – in einer internationalen Seminarreihe zu der 2024 eröffneten Kafka-Ausstellung, die aufgrund der großen Resonanz noch bis zum Juni verlängert wird.