Der Dokumentarfilm „Die Aufseherin – Der Fall Johanna Langefeld“ im Ersten erzählt eine beinahe unglaubliche Geschichte. Eine Täterin des KZ-Systems kann nach dem Krieg noch vor ihrem Prozess in Polen fliehen – mithilfe ehemaliger Lagerinsassinnen.

Stuttgart - Manches kann man sich vorstellen. Anderes will zunächst einmal nicht in den Kopf. Dass die Insassen eines Gefängnisses das Wachpersonal einteilen in die sturen Hunde, die willentlichen Schikaneure und die nachsichtigen Menschlichen – ja, das ist einem sofort einsichtig. Aber kann man so etwas in die Welt eines deutschen Konzentrationslagers übertragen? Kann es unter den Wachmannschaften jemanden geben, den die hierher Verschleppten nicht als Schinder aus der Hölle begreifen, als personifizierte Unmenschlichkeit eines perversen Regimes? Alles, was man weiß über das Folter- und Vernichtungslagersystem der Nazis, legt sich quer vor diesen Gedanken: die humane Bestie, sie wäre ein Widerspruch in sich. Und doch spürt der Dokumentarfilm „Die Aufseherin – Der Fall Johanna Langefeld“ solch einer Unvorstellbarkeit nach.

 

Teil der Mordmaschine

Es geht da nicht um ein Missverständnis Nachgeborener beim Studium von Zeitzeugenberichten, auch nicht um eine nachlässig nachsichtige Formulierung einer Überlebenden Jahrzehnte nach dem Ende der Naziherrschaft. Dass Johanna Langefeld, Oberaufseherin im Frauen-KZ Ravensbrück und dann Oberaufseherin im Frauenlager von Auschwitz, als nicht nur böse wahrgenommen wurde, ist durch Taten bezeugt.

Im Dezember 1946 sitzt Langefeld in Krakau in Haft. Die ersten Auschwitzprozesse stehen bevor, Langefeld hat als Teil der Mordmaschine nichts als den Galgen zu erwarten. Kaum jemand im Polen jener Tage sollte eigentlich so gut bewacht werden wie jener Teil des Lagerpersonals, dessen man habhaft werden konnte. Am 23. Dezember aber gelingen Langefeld die Flucht und das Abtauchen.

Die letzten Eingeweihten sprechen

Das war keine Bravourtat eines dämonischen Pfiffikus, das war das Ergebnis einer präzise orchestrierten konspirativen Aktion. Wachpersonal musste überredet oder bestochen, eine Freigängerinnenarbeit außerhalb der Gefängnismauern organisiert und ein Unterschlupf vorbereitet werden. Die Strippenzieherinnen? Eine Gruppe ehemaliger Häftlinge aus Ravensbrück. Das deutsch-polnische Filmautorenduo Gerburg Rohde-Dahl und Wladek Jurkow belegt, was nur Gerücht war. Wer über die Fluchthilfe Bescheid wusste, hatte lange geschwiegen, um Langefeld und die polnischen Verschwörerinnen vor Strafverfolgung zu schützen. Nun sprechen die letzten hochbetagten Eingeweihten vor der Kamera.

Die Aufseherin. Der Fall Johanna Langefeld_Trailer from Wladek Jurkow on Vimeo.

Das Bild, das sich formt, ist eines unfassbarer Schizophrenie. Langefeld war überzeugte Antisemitin, das Frauen-KZ von Auschwitz hat sie als erfahrene Fachkraft der SS-Lagerindustrie mit aufgebaut. Sie hat alles Schreckliche, vom Niederprügeln Wehrloser über grauenhafte medizinische Experimente an Gefangenen bis hin zu den Gaskammern, mit eigenen Augen gesehen. Und doch war sie besorgt darum, diejenigen Gefangenen, die sie mochte – nichtjüdische –, vor Härten zu schützen.

Bilder aus dem Familienalbum

Die fast 100-jährige KZ-Überlebende Joanna Penson, die auch in Polen als Kritikerin des Kommunismus in Haft kam, die erst die Ärztin und dann die persönliche Referentin von Lech Walesa wurde, drückt den Irrsinn der Lagerwelt so aus: Es habe „die Schlimmen, die Schlimmeren und die Sadistinnen, die Schlimmsten“ gegeben. So erklärt sie die Loyalität gegenüber einer Täterin: „Die Langefeld war kein Engel, aber im Vergleich zu den anderen benahm sie sich zweifellos anders.“

Bislang war den Historikern nur ein Bild bekannt, das vermutlich Johanna Langefeld in Ravensbrück zeigt. Im Film „Die Aufseherin“ räumt nun eine Zeitzeugin nicht nur mit allen Zweifeln auf. Aus privaten Fotoalben tauchen weitere Bilder auf. Und so stellt dieser außergewöhnliche Dokumentarfilm hart gegeneinander, was man wieder kaum zusammen denken kann: hier die schrecklichen Erzählungen aus den Lagern, da Bilder heiterer bis miefiger kleinbürgerlicher Normalität, Menschen ohne Auffälligkeiten, das Lagerpersonal der KZs.

Ausstrahlung: Im Ersten, 29. Juli 2020, 22.45 Uhr. Nach der Ausstrahlung nur eine Woche lang in der Mediathek des Senders.