Vor einem Jahr ist ein spanischer Schnellzug bei Santiago de Compostela viel zu schnell in eine Kurve gerast und entgleist. 79 Passagiere starben. Die Justiz ist noch immer auf der Suche nach den Schuldigen.

Korrespondenten: Martin Dahms (mda)

Santiago de Compostela - Teresa Gómez-Limón hat das Unglück überlebt. Sie saß im Schnellzug Alvia auf dem Weg von Madrid nach El Ferrol im Nordwesten Spaniens, der vor einem Jahr eine Kurve kurz vor der Einfahrt in den Bahnhof von Santiago de Compostela zu schnell nahm und entgleiste. 79 Personen starben an jenem Abend des 24. Juli 2013, mehr als 140 wurden verletzt. Eine der Verletzten war die heute 64-jährige Teresa Gómez-Limón. Ihre äußeren Wunden sind verheilt, aber sie steckt noch immer voller Wut. Sie ist sauer, dass nach dem Umfall niemand zurücktrat, weder der Chef der Eisenbahngesellschaft Renfe noch des Netzbetreibers Adif. Sie ist sauer, dass kein parlamentarischer Untersuchungsausschuss ins Leben gerufen wurde. Gómez-Limón ist Abgeordnete der konservativen Volkspartei im Madrider Regionalparlament, aber sie hat genug von der Politik. Bei den Wahlen im kommenden Jahr will sie nicht wieder kandidieren.

 

100 fatale Sekunden lang war der Lokführer abgelenkt

„Wenn ich gewusst hätte, dass ein enormes Gerät, das mit 200 Kilometern in der Stunde unterwegs ist, nur von der Aufmerksamkeit eines Herren abhängt, wäre ich nicht eingestiegen“, sagt die wütende Nochpolitikerin. Das „enorme Gerät“ ist der Schnellzug und der eine Herr, von dessen Aufmerksamkeit alles abhing, der Lokführer Francisco José Garzón. 100 Sekunden lang war Garzón abgelenkt: So lange dauerte ein Telefongespräch mit einem Schaffner aus dem selben Zug. Als das Gespräch beendet war, stellte Garzón mit Entsetzen fest, dass er sich kurz vor der Einfahrt nach Santiago befand und den Zug längst von Tempo 200 auf Tempo 80 hätte abbremsen müssen. Er bremste zu spät. Die Kurve, die vor ihm lag, nahm er mit Tempo 179 – viel zu schnell. Sein Zug entgleiste, er selbst überlebte. „Hoffentlich hat es keine Toten gegeben“, sagte er, als er sich blutend aus der Lok befreite. „Sie werden mir auf dem Gewissen liegen.“

Garzón, damals 52 Jahre alt und mit mehr als zehn Jahren Erfahrung als Lokführer, hat das Leben von 79 Personen dem Gewissen. Er lebt irgendwo bei Freunden auf freiem Fuß und wartet auf den Prozess, der eines Tages gegen ihn geführt werden wird. Cristóbal González, einer der Überlebenden des Unglücks, fragte den Lokführer in einem Beitrag für die Tageszeitung „El Mundo“, wie es möglich sei, dass er 200 fuhr, wo 80 vorgeschrieben war. „Die so oft wiederholte ‚Unaufmerksamkeit‘ überzeugt mich nicht“. Aber González schrieb auch: „Schließlich sind wir Menschen, wir sind nicht perfekt.“ Er hege weder Hass noch Rachegefühle gegen den Lokführer. So wie González empfinden viele Spanier: Bei allem Unverständnis tut ihnen Francisco José Garzón auch Leid.

Wer wird auf der Anklagebank sitzen? Und wann?

Ein Ermittlungsrichter aus Santiago, Luis Aláez, beschuldigte außer dem Lokführer im Mai dieses Jahres auch elf Führungsleute des Netzbetreibers Adif, für den Unfall verantwortlich zu sein: weil sie die erst im Dezember 2011 eröffnete Bahnlinie mit ungenügenden Sicherheitssystemen ausgestattet hätten. Mehrere Sachverständige sind zu dem Schluss gekommen, dass der Unfall mit besseren Sicherheitsstandards zu verhindern gewesen wäre.

Adif selbst hat auf das Unglück reagiert und auf insgesamt 375 gefährlichen, bisher ungeschützten Abschnitten des spanischen Eisenbahnnetzes Kommunikationssysteme zwischen Gleis und Lok installieren lassen, die den Zug im Fall der Fälle automatisch abbremsen. Es soll sich kein Unfall wiederholen, bei dem Leben und Gesundheit der Fahrgäste von der Aufmerksamkeit eines einsamen Herren abhängen. Für den anstehenden Strafprozess gegen Garzón gibt es noch keinen Termin. Ob neben dem Lokführer auch die Adif-Verantwortlichen auf der Anklagebank sitzen werden, steht noch nicht fest.